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«Befehl, Glaube und Gehorsam liegen nahe beieinander»

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23.11.2017
In ihrem neuen Roman «Schildkrötensoldat» prangert Melinda Abonji die Militarisierung der Gesellschaft an. Sie erklärt, warum die Bibel darin eine zentrale Rolle spielt.

Wie fühlt es sich eigentlich an, wenn der druckfrische Roman vor einem auf dem Tisch liegt?
Es war extrem schön und befreiend für mich, abzuschliessen. Der Roman hat eine sehr lange Geschichte; bereits 2011 lag ein Fragment vor. Am Schluss hat mich die Materie aufgezehrt. Zwei junge Männer sterben in den Fängen einer brutalen Armee, die eine nicht minder brutale Gesellschaft hervorgebracht hat – ihr Schicksal ist nicht erfunden, sondern nachempfunden. Als Autorin muss man in die Schicksale eintauchen und bleibt davon nicht unbeschädigt.

Wie kommen Sie als Frau dazu, einen Roman über eine Militär- und Männerwelt zu schreiben?
Ich wusste schon lange, dass ich irgendwann in eine Welt vordringen muss, aus der wir Frauen mehrheitlich ausgeschlossen sind. Der Roman spielt zu Beginn des jugoslawischen Bürgerkriegs 1991. Die Problematik der Militarisierung existiert aber überall. Sie beginnt bereits im Kopf der Menschen. Es sind Überzeugungen wie: Ein richtiger Mann muss ins Militär gehen. Er darf nicht weinen, weil er sonst ein Weichei ist. Als Tochter, Schwester und vor allem als Mutter eines Sohnes macht mich das extrem wütend. Ist es überhaupt zulässig, dass Eltern ihre Söhne ins Militär schicken? Diese Frage treibt mich um.

Dann spielt der Kriegsschauplatz eine nebensächliche Rolle?
Natürlich spitzt sich die Militärgewalt in einer Kriegssituation zu, weshalb ich die Handlung im Jugoslawienkrieg angesiedelt habe. Das Problem ist aber universell. Die Romanfigur Zoltán wird von seinen Eltern in die Armee geschickt in der Hoffnung, aus dem vermeintlichen Idioten werde dort ein richtiger Mann und Held. Dort erfährt er verbale und physische Gewalt, wie schon durch seine Eltern und seinen Lehrmeister, der ihn fast beiläufig ohrfeigte und demütigte. Mir geht es darum aufzeigen, wie infiltriert die ganze Gesellschaft von Gewalt und Grausamkeit ist. Letztlich stirbt Zoltán ja nicht im Krieg, sondern zu Hause. Seine Cousine Hanna arbeitet seinen Tod auf, sie ist die zweite Erzählstimme.

Dieser Zoltán bringt sich anhand einer Bibel, dem einzigen Buch im Elternhaus, selber das Lesen bei. Was hat es damit auf sich?
Der Bibel kommt eine Schlüsselrolle zu. Zoltán hat einen sehr sinnlichen Zugang zu ihr. Er setzt sich nicht intellektuell auseinander mit Geschichten wie dem «Hauptmann von Kapernaum», sondern er will in das göttliche Wort schlüpfen und darin Heil und Heilung finden. Er «fliegt» durch die Seiten der reich bebilderten Bibel, die ihn das Lesen lehrt. Sein Freund Jenő dagegen, der sich auch mit der Bibel auseinandersetzt, ist der Analytiker und Atheist: Für ihn sind die biblischen Wundergeschichten nur dazu da, um den Menschen Gehorsam beizubringen. Er sagt: «Mit einem schönen Wunder werden wir eingelullt, und dann sollen wir gehorchen, in der Kirche, der Armee, wo auch immer!» Die beiden Figuren repräsentieren verschiedene Lesarten der Bibel – und eine grundsätzliche Spannung, die in ihr enthalten ist.

Wie lesen Sie als Autorin die Bibel?
Für mich ist die Bibel eine kontinuierliche Auseinandersetzung; ihre Lektüre ein absolutes Muss. Es ist ein Text mit unzähligen Ebenen, schönen aber eben auch grausamen. Befehl, Glaube und Gehorsam liegen nahe beieinander. Letztlich kommt es immer auf die Interpretation an, darauf, wie Worte in Handlungen umgesetzt werden. Nehmen wir den Satz «Fürchte Dich nicht!». In einer Situation, in der jemand Angst empfindet, kann er sehr heilsam sein. Die Worte können aber auch als Aufruf zur Schlacht verwendet werden – und dann ist es Mord. Etwa dann, wenn den Soldaten eingebläut wird, dass sie keine Angst vor dem Tod haben müssen, weil sie danach in den Himmel kommen.

Und woran glauben Sie?
Ich lehne die Fokussierung auf einen männlichen Schöpfer ab. Ich stelle ihm die Welt als Schöpfung gegenüber, die ich als beseelt und sehr reich empfinde. Ich bin auf der Seite der Schöpfung ­– und nicht auf der Seite des Schöpfers.

Sandra Hohendahl-Tesch, reformiert.info, 23. November 2017

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