Baselland, Basel-Stadt, Luzern, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Uri, Zug

Ein Baum zum Staunen und Träumen

min
24.07.2018
Bis zum 29. Juli ist das Kunstwerk «GaiaMotherTree» des brasilianischen Künstlers Ernesto Neto im Zürcher Hauptbahnhof zu sehen. Es ist ein monumentaler gehäkelter Baum, den man begehen kann und der dazu einlädt, bei sich selbst zu verweilen.

Morgens um 8 Uhr im Zürcher Hauptbahnhof. Mit der Rolltreppe fahre ich aus dem unteren Stock in die Haupthalle hoch. Und dort erhebt er sich. Ein riesiger Baum, mit Wurzeln am Boden und einer ausladenden Krone bis an die Decke. Im Gegenlicht der Morgensonne, die durch die Fenster der Halle fällt, schimmert das aus Stoffbändern geknüpfte gelb-orange-grüne Kunstwerk zauberhaft schön: wie aus einer anderen Welt.

Durch eine Art Höhle betrete ich das Innere. Ich ziehe die Schuhe aus, gehe über einen weichen Stoff und setze mich auf eines der bereitliegenden runden Kissen. Ich rieche Lavendel und entdecke direkt neben mir einen Blumentopf mit einer Lavendelstaude. Erstaunlich: Im Innern des Baumes ist die Atmosphäre ganz anders als in der hektischen Halle. Alles wirkt stiller und ruhiger. Jemand schläft. Ein Mann und eine Frau liegen nebeneinander und sprechen leise miteinander. Eine Frau sitzt mit geschlossenen Augen auf einem Kissen. Ich lege mich auch hin und sehe erst das riesige violett-rote Blumenornament unter der Decke. Die geknüpfte Hülle ist keine Wand und doch schirmt sie mich ab von der Hektik der Bahnhofshalle, hüllt mich liebevoll ein.

Verbunden mit Mutter Natur
«GaiaMotherTree» heisst die Installation, die der zeitgenössische brasilianische Künstler Ernesto Neto extra für die Zürcher Bahnhofshalle geschaffen hat. In diesem Namen steckt schon ganz viel von Netos Botschaft: Erdenmutterbaum, könnte man den Namen übersetzen. Der Brasilianer möchte uns daran erinnern, dass wir alle Teil der Natur sind.

Und er will mich dazu einladen, zu mir selber zurückzufinden. Dies erfahre ich in der Werkbetrachtung, die täglich um 12 Uhr von einer Studentin der Zürcher Hochschule der Künste durchgeführt wird. Demnach erlebte der heute 54-jährige Künstler 2013 einen wichtigen Einschnitt in seinem Schaffen, als er im brasilianischen Amazonasgebiet die indigene Bevölkerungsgruppe der Huni Kuin kennenlernte und eine Weile mit ihnen lebte. Ihre Naturspiritualität habe ihn tief geprägt und seine Kunst verändert.

Meisterwerk der Statik
Seither arbeitet Ernesto Neto nur noch mit Naturmaterialien. Für «GaiaMotherTree» wurden Baumwollbänder gefärbt und von 27 Personen in Rio de Janeiro in wochenlanger Arbeit mit einer traditionellen Fingerhäkeltechnik der Indigenen zusammengeknüpft. Die Installation wird durch Gegengewichte stabilisiert, die wie Regentropfen von der Decke hängen und mit gemahlenen Gewürzen gefüllt sind. Auf dem Boden stabilisieren 840 Kilogramm Erde das Werk. Auch in den vom Künstler designten Holzbänken im Innern findet sich kein einziger Nagel.

In der 150-jährigen Bahnhofshalle soll das Kunstwerk einen Kontrapunkt bilden zum Diktat der Produktivität und Effektivität, das die Moderne prägt – auch die ersten Bahnhöfe wurden in dieser Zeit gebaut, in der alles immer schneller gehen musste. Tatsächlich scheinen viele Menschen, die den Baum besuchen, ihn als Oase zu empfinden. Bei meinem Besuch traf ich sogar eine Frau, die deshalb jeden Tag kommt. Auch Kinder mögen den Baum, weil man ihn nicht nur anschauen, sondern auch berühren darf. Zieht man an einer der von der Decke baumelnden Schnüren, versetzt man das Werk in feines Schaukeln.

Pfarrer ohne Kreuz
Das Rahmenprogramm zur Installation umfasst nebst Konzerten auch Meditationen und Mantra-Singen. Den einzigen christlichen Part steuert der reformierte Pfarrer Patrick Schwarzenbach bei, der am letzten Tag eine Andacht im «GaiaMotherTree» gestaltet. Er sei von den Schweizer Organisatoren angefragt worden, erzählt der Pfarrer am Offenen St. Jakob. «Ernesto Neto selbst war zunächst sehr skeptisch». Und er habe nur unter einer Bedingung zugesagt: Schwarzenbach darf kein gut sichtbares Kreuz tragen. «Für Neto ist das Kreuz das Symbol der katholischen Kolonialherren, die in Brasilien die Ureinwohner vertrieben haben», erklärt er. Da er ohnehin kein Kreuz trage, sei diese Bedingung kein Problem, so Schwarzenbach.

Der unkonventionelle Pfarrer, der auch schon als Einsiedler im Wald lebte, wird die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Andacht mit Texten der französischen Mystikerin Marguerite Porete in die Stille einladen – wie es der «GaiaMotherTree» selbst auch tut. Dieser Austausch mit dem Publikum, den Ernesto Neto anstrebt, beeindruckt Schwarzenbach. «Ich fühle mich in dem riesigen Baum geschützt, ein wenig wie in einem Mutterbauch.» 

Noch kein neuer Ort
«GaiaMotherTree» wird von der Fondation Beyeler präsentiert. Wohin das Werk nach seinem Abbau ab dem 29. Juli kommt, ist offen. Leider sei noch kein Museum gefunden worden, das den riesigen Baum bei sich aufstellen könnte. Noch hat man einige Tage die vielleicht einmalige Gelegenheit, den ganz besonderen Baum zu geniessen. Der Künstler empfiehlt: «Take off your shoes and feel free to walk in, lie down, take a nap, dream.» Zieh deine Schuhe aus und fühl dich frei, den Baum zu betreten, leg dich hin, mach ein Nickerchen, träume.

Sabine Schüpbach, reformiert.info, 24. Juli 2018

«A mirror of simple souls»: Andacht, Musik und Meditation mit Pfarrer Patrick Schwarzenbach. Sonntag, 29. Juli, 10 bis 10.45 Uhr beim «GaiaMotherTree» im Zürcher Hauptbahnhof

Unsere Empfehlungen

Wie das Christentum zu den Ostereiern kam (1)

Wie das Christentum zu den Ostereiern kam (1)

Ostern ist der höchste Feiertag für die Christenheit. An diesem Tag feiern die Gläubigen die Auferstehung des Herrn. Doch wer in diesen Tagen die Läden betritt, stellt rasch fest: Der eigentliche Star heisst Meister Lampe. Wie kommt das Christentum zu den Eiern und den Hasen?
51 Jahre für die Musik

51 Jahre für die Musik

Als 15-Jährige spielte Elisabeth Schenk erstmals in einem Gottesdienst. Der Winznauer Pfarrer hatte sie angefragt. Aus diesem Auftritt wurden 51 Jahre, in denen Schenk die Kirch­gemeinde musikalisch begleitete.
Mani Matter: Die Menschen haben Gott vergessen

Mani Matter: Die Menschen haben Gott vergessen

50 Jahre nach Mani Matters Tod zeigen neue Dokumente: Der Chansonnier war auch ein Gottsucher und plante gar eine «Verteidigung des Christentums». Der Revoluzzer und gedankliche Querschläger war zwar ein Kritiker der Kirche, setzte sich aber für die Bewahrung des christlichen Fundaments ein.