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Von der Respektsperson zum Blitzableiter

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22.08.2019
Auch Zugbegleiterinnen, Polizisten, Bademeister und Lehrkräfte sind Mitmenschen und verdienen eine wertschätzende Behandlung. Eine Binsenweisheit? Heute nicht mehr. Die Lust, Leute im öffentlichen Dienst zu beschimpfen, zu behindern, zu beleidigen und zu bedrohen, nimmt zu.

Leute an der Emme am Bräteln. Auf einmal erscheint ein Feuerwehrmann und ruft den Leuten zu, sie sollten das Flussbett verlassen, aus dem oberen Emmental sei eine Flutwelle am Anrollen. «Hau ab, du Idiot!», ruft ihm einer aus der Gruppe zu. Die Gruppe verlässt den Gefahrenbereich dann doch noch, aber erst auf Insistieren des Warners und nach zeitraubendem Wortwechsel.

Weiteres Beispiel: In einem Abendzug von Freiburg nach Bern sitzen die Leute dicht an dicht, viele stehen auch im Eingangsbereich des Waggons, unter ihnen ein junger Mann mit hochgezogener Kapuze. Der Zugbegleiter macht die Runde und kontrolliert die Tickets. «Ich zeige meins nicht», sagt der Kapuzenmann. «Warum nicht?», will der Kontrolleur wissen. «Weil ich es dir nicht zeigen muss.» «Doch, ich muss es sehen.» «Zieh Leine, sonst werde ich aggressiv.»

Von der Lehrerin bis zum Bademeister
Diese Beispiele sind nicht erfunden, und die Liste liesse sich beliebig erweitern. Personen im öffentlichen Dienst haben es heute schwerer als noch vor 20, 30 Jahren. Immer öfter und immer hemmungsloser werden sie an der Ausübung ihrer Arbeit gehindert; Anordnungen werden missachtet, es wird reklamiert, gemäkelt, gepöbelt, gedroht. Betroffen sind Feuerwehrleute, Rettungssanitäter, Polizisten, Wildhüter und Verkaufspersonal. Ganz zu schweigen von den Lehrpersonen, die sich von renitenten Kids und kämpferischen Eltern so einiges gefallen lassen müssen.

«Früher war der Badmeister eine Respektperson, heute gibt es mehr Pöbeleien, und es wird weniger zugehört», liess sich jüngst der Könizer Gemeinderat Thomas Brönnimann in der Tagespresse zitieren. Auch beim Verkehrspersonal ist diese Entwicklung bekannt. «Noch vor zwei, drei Jahrzehnten war zum Beispiel die Billettkontrolle im Zug eine allgemein akzeptierte Amtshandlung», sagt Manuel Avallone, Vizepräsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV. «Heute empfindet man das Auftauchen des Kontrollpersonals eher als lästig und fragt sich, was wollen denn die schon wieder.»

Die volle Ladung
Aus dieser Haltung heraus bekommen jene ÖV-Mitarbeitenden, die in direktem Kundenkontakt stehen – also Buschauffeur, Zugbegleitung, Schalterpersonal bis hin zur Bahnhofreinigung – oft die volle Ladung ab, wenn es zu Verspätungen, Pannen und anderen Friktionen kommt. Nach wie vor begegneten viele Leute dem Personal höflich, das sei unbestritten, räumt Avallone ein. Aber ebenso unbestritten sei auch ein Trend in Richtung «unhöflich, gereizt und respektlos». Das könne bis hin zu Pöbeleien, Anspucken und Tätlichkeiten gehen. Mit randalierenden Fussballfans habe man sich im öffentlichen Verkehr ebenfalls vermehrt auseinanderzusetzen.

Das falsche Signal
Der Psychologe Allan Guggenbühl, Leiter des Instituts für Konfliktmanagement in Zürich, ist der Ansicht: Teil des Problems sei der Auftritt des öffentlichen Personals, sowohl verhaltensmässig als auch optisch. Die Verwandlung des klassischen Kondukteurs von einst zum jovialen und lockeren Kundenbegleiter von heute biete Angriffsfläche, sagt er. Eine bestimmte Gruppe von Reisenden – darunter auch Jugendliche – lasse sich vom Signal «ich bin euer Kumpel» zu nervtötenden Diskussionen, Widersetzlichkeit, Frechheit und sogar zu Tätlichkeiten verleiten.

Eine Person im öffentlichen Dienst müsste laut Guggenbühl vermehrt wieder als Vertreter und Vertreterin der Institution, in deren Dienst sie steht, erkennbar werden. Das beginne schon mit der Uniform. «Die Polizei in ihren Cargohosen und Baseballcaps, manchmal sogar in kurzen Hosen, das wirkt bloss peinlich und steht nicht für die Autorität, die die Ordnungsmacht des Staates ausstrahlen sollte», sagt er. «Manchmal höre ich von Jugendlichen aus anderen Ländern, dass sie die Schweizer Polizei nicht ernst nehmen könnten, denn diese lasse sich ja auf Diskussionen ein und greife nicht wirklich durch.»

Guggenbühl stellt klar: Er plädiere nicht für eine aggressive Polizei. «Aber gegenüber widerständigen Personen und Gruppen sollten Polizisten unmissverständlich klarstellen, dass sie im Namen und in der Autorität des Staates auftreten.» Analog gelte dies auch für Leute, die bei anderen öffentlichen Institutionen arbeiteten.

Respekt als Kampfbegriff
Woher aber stammt die weit verbreitete Lust, die Autorität von beamteten Personen zu untergraben? Der deutsch-österreichische Journalist und Autor Wolf Lotter setzt sich mit gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Entwicklungen auseinander. Er begründet die zunehmende Kultur der Respektlosigkeit historisch: «Rock 'n' Roll, Beat, Pop, Punk, die 68er und die Ökologiebewegung – für sie alle war ‹locker bleiben› und ‹lässig sein› die neue soziale Doktrin», schreibt er in einem Aufsatz im Wirtschaftsmagazin «Brand eins». Im Zuge dieses gesellschaftlichen Aufbruchs sei der Begriff «Respekt» geradezu zum Kampfbegriff geworden. «Wer die neue Welt wollte, der musste respektlos sein.»

Unterdessen sei, so Lotter weiter, die Respektlosigkeit gesellschaftlich derart verinnerlicht, ja geradezu zur Leitkultur erhoben worden, dass sie heute alltäglich sei: gegenüber der Kassierin, im Gespräch mit dem Callcenter, im öffentlichen Verkehr. Wer sich mit Frechheiten zum Teil rüdester Art konfrontiert sehe, habe dies – so die Haltung der Austeilenden – gefälligst auszuhalten, dafür sei er oder sie schliesslich bezahlt.

Neuer Anstand in der Netzkultur?
Auf der anderen Seite zeige sich, besonders am modernen Arbeitsmarkt, eine klare Trendwende, schreibt Lotter. Er zitiert den deutschen Informatiker und Publizisten Ulrich Klotz, der feststellt: «In der Wissensgesellschaft gibt es Wertschöpfung nur mit gegenseitiger Wertschätzung – Respekt ist das Schmiermittel.» Und: Im Netz funktioniere Kooperation sowieso nur mit Respekt – «und die Netzkultur färbt auf den Rest der Welt ab».

Bleibt nur zu hoffen, dass sich «der Rest der Welt» bald einmal auch wirklich an der von Klotz postulierten Netzkultur der Wissensgesellschaft orientiert – und nicht am aktuellen Gebaren der pöbelnden, austeilenden, geifernden und verbal marodierenden Rüpel im Netz.

Hans Herrmann, reformiert.info, 22. August 2019

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