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«Jetzt müssen wir einen 'Wir-Sinn' schaffen.»

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07.05.2020
Social Distancing wird auf längere Zeit zur Notwendigkeit, es verändert auch unsere Wahrnehmung der Menschen um uns herum. Der Soziologe Hartmut Rosa über Folgen der Corona-Krise.

Herr Rosa, das öffentliche Leben steht weitgehend still, wir können nicht reisen, vielen Hobbies nicht nachgehen wie bisher, unser Sozialleben nicht so pflegen, wie wir es gewohnt sind. Was passiert, wenn diese Einschränkungen wieder wegfallen?
Wir müssen derzeit auf vieles verzichten und vermutlich werden wir einen Nachholbedarf haben und vielfach Normalität wieder herstellen wollen. Insofern besteht schon die Gefahr, dass wir dann noch schneller unterwegs sein werden und unsere To-Do-Listen abarbeiten wollen. Aber in diesen Wochen ist bei den meisten Menschen viel freie Zeit entstanden, alte Routinen funktionieren nicht mehr. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir das nicht auch als Chance für einen Pfadwechsel nehmen. Wenn wir erst einmal wieder in den Hamsterrädern stecken, kommen wir so schnell nicht mehr raus. Der Druck der Wirtschaft ist gross, auch hängt für viele die Existenz davon ab, schnell wieder durchzustarten. 

Können wir diese Entscheidung überhaupt individuell treffen?
Die Spielräume sind vielleicht nicht gross. Und natürlich ist bei vielen der Wunsch auch da, wieder einfach ins alte Leben zurückzukehren, insbesondere bei Menschen, die Angst um ihre wirtschaftliche Existenz, ihre Gesundheit oder um Angehörige haben. Man darf nicht unterschätzen, wie groß die Not und Sorge für viele in dieser Zeit auch geworden ist – für nicht wenige ist der Stress sogar größer geworden. Dennoch machen wir gerade neue Erfahrungen mit uns und mit einer anderen Lebensform, wir sind plötzlich anders in Zeit und Raum gestellt. Faszinierend ist etwa das, was ich «Reichweitenverkürzung» nenne. Wochen auf einer einsamen Alphütte oder auf dem Jakobsweg werden von vielen Menschen ja regelrecht gesucht. Nun erleben wir eine ungewollte Reichweitenverkürzung. Wir erfahren eine andere Weise, mit uns selbst und anderen umzugehen. Der Spielraum, ein paar von diesen Erfahrungen wirksam werden zu lassen, besteht schon.

Zum Beispiel?
Wir sind beispielsweise nicht gezwungen, ständig zu reisen. Oder wir stellen fest, dass uns andere Dinge bewegen, als ursprünglich gedacht, dass wir andere Resonanzachsen haben als bisher angenommen. Oft sagen wir: Wenn ich mal Zeit habe, dann höre ich eine Wagner Oper, ich lese ein bestimmtes Buch, ich lerne Klavierspielen. Aber nun, da man die Zeit hat, zeigt sich, dass das nicht so einfach geht. Dass es gar nicht Wagner oder das Klavier sind, mit dem man sich beschäftigen will, sondern vielleicht lieber AC/DC. Wir lernen unsere Resonanzachsen neu kennen.

Sie sprachen das Reisen an. Bietet die Pandemie also auch eine Chance gegen den Klimawandel?
Ja, ich halte das für eine Chance. Denn mit Blick auf die Klimapolitik haben wir eine gewaltige Ohnmachtserfahrung gemacht, eine Erfahrung der kollektiven Unwirksamkeit. Es gab grüne Parteien, Klimagipfel, Verpflichtungserklärungen aber nichts hat wirklich viel gebracht. Seit 50 Jahren sprechen wir über das klimaschädliche Fliegen, aber jedes Jahr steigen die Passagierzahlen. Wir haben resigniert und uns gesagt, so funktioniert eben das moderne Leben. Dann kommt ein Virus und wir machen die Erfahrung, dass wir tatsächlich politisch handeln und die Räder zum Stillstand bringen können, wenn wir das wollen. Die Erfahrung, dass wir den Beschleunigungsprozessen nicht einfach ausgeliefert sind, ist extrem wichtig und wir können sie künftig im Kampf gegen den Klimawandel nützen. 

Gleichzeitig nimmt uns das Virus das Gefühl, alles kontrollieren zu können.
Genau. Ich verfolge die These, dass die Moderne sowohl auf der individuellen wie auch auf der institutionellen Ebene darauf angelegt ist, Verfügbarkeit herzustellen. Die Wissenschaft zeigt uns wie Dinge funktionieren, mittels Technik beherrschen wir sie, die Wirtschaft ermöglicht, dass wir sie uns leisten können und politisch können wir sie steuern. Mit dem Virus dagegen begegnen wir einer monströsen Unverfügbarkeit, einem Mangel an Kontrolle. Wir haben das Virus weder wissenschaftlich noch medizinisch im Griff, wir können es politisch nicht steuern und sind den wirtschaftlich desaströsen Konsequenzen ausgesetzt. Das Coronavirus ruft eine so starke politische Reaktion hervor, weil wir nun versuchen, mit allen Mitteln Verfügbarkeit, Kontrolle, wiederherzustellen. 

Wird uns diese Erfahrung prägen, in Zukunft etwa ängstlicher machen?
Sie kann dazu führen, dass wir zwanghafter werden, also auch nach Corona noch mit Maske herumlaufen oder Abstand halten. Andererseits könnten wir uns auch dieser schwierigen Situation stellen und unser Verhältnis zur Unverfügbarkeit überdenken. Das heisst jetzt nicht, dass wir uns der Krankheit, dem Schicksal ergeben. Es steht ausser Frage, dass wir alles tun müssen, um einen Impfstoff oder ein Medikament zu finden. Aber wir könnten akzeptieren, dass Leben dort gelingt, wo man Momente der Unverfügbarkeit, des Kontrollverlusts akzeptiert. Resonanz findet dort statt, wo wir uns von einem anderen Menschen, einer Sache oder einer Idee berühren lassen, die uns fremd ist und bei der wir nicht wissen, was am Ende dabei herauskommt. 

Die Pandemie schürt auch die Angst vor dem anderen Menschen als Überträger. Im Supermarkt spürt man das Misstrauen der Menschen untereinander. Wird das wieder verschwinden oder bleibt das?
Das Virus bündelt und verstärkt Tendenzen, die in der Gesellschaft bereits existieren. Dazu gehört die Begegnung des Fremden mit latenter Abwehr. Genau das wird jetzt zum körperlich stark erfahrbaren Grundmoment. Es wird der Sinn geschärft: Der andere ist eine mögliche Bedrohung. Andererseits schafft die Krise auch eine neue Art von Nähe, einen Sinn für Solidarität, die der physischen Entfremdung entgegenläuft. Es gibt keine Formel, um zu berechnen, welches Konzept sich nun durchsetzt. Das liegt an uns allen. Wir können mit Aufmerksamkeit in die eine oder andere Richtung steuern.

Die Welle der Solidarität, Fremde die einkaufen gehen für Senioren oder Kinder hüten, hat uns als Gesellschaft selbst überrascht. Warum?
Solidarität gegenüber Fremden ist in unserer individualisierten Wohlstandsgesellschaft unter normalen Umständen kaum mehr nötig. Für jedes Problem gibt es eine institutionelle Zuständigkeit, den Arzt, den Klempner, den Anwalt. Aber jetzt, da viele Dienstleistungen nicht mehr erhältlich sind, rückt solidarisches Handeln wieder in den Vordergrund. 

Dennoch warnen Sie auch vor Spaltungen zwischen den Generationen. Wie ist das gemeint?
Das Virus ist für alte Menschen am gefährlichsten, doch einschränken müssen sich auch die Jungen. Sie verzichten nun auf ihre Matura-Feier, auf Reisen und auf den Ausgang. Nun kann man sagen, ist doch alles halb so wild. Aber so einfach ist das nicht. Diese Verzichte darf man nicht bagatellisieren, man muss sie anerkennen. Dazu braucht es auch eine andere Art der Kommunikation. Solidarität zerbricht immer, wenn ein «wir» und ein «die» konstruiert wird; «wir dürfen etwas nicht, um «die» zu retten. Jetzt müssen wir einen «Wir-Sinn» schaffen. «Wir wollen nicht, dass unsere Alten sterben, wir wollen eine Gesellschaft sein, die sich um alle kümmert.» 

Bietet diese Phase der Entschleunigung auch eine Chance für Spiritualität und Religion?
Ich denke schon, dass das Bedürfnis nach einem Gefühl für eine Verbindung mit dem Umgreifenden in diesen Zeiten zunimmt. Die Verletzbarkeit und die Unverfügbarkeit des Lebens ist ja auch ein wiederkehrendes Thema der Bibel, auch dort werden Seuchen und Plagen beschrieben. Ich glaube, das Coronavirus ist wie ein Anruf an die Gesellschaft und auch die Kirche muss ihre Antwort darauf finden. Es stellt sich zudem  die Frage nach dem, was man altertümlich als Geschick bezeichnet. Natürlich will ich nicht sagen, dieses Virus hat irgendeinen Sinn. Aber es bringt unsere Gesellschaft in Reflexionsmodus. Und der zwingt uns auch dazu, Antworten auf unser Verhältnis zur letzten Wirklichkeit zu finden. 

Cornelia Krause, reformiert.info

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