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Weg mit der Gardistrasse! Oder doch nicht?

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11.08.2020
Die Gardistrasse in Bern soll verschwinden, weil René Gardi wegen «Unzucht mit Kindern» verurteilt wurde. Der Historiker André Holenstein warnt vor Schnellschüssen.

Herr Holenstein, was halten Sie davon, wenn Namen von Strassen, Plätzen und Gebäuden verändert werden, weil über ihre Namensgeber neue, problematische Fakten bekannt werden?
Als Historiker bin ich gegenüber solchen Massnahmen  zurückhaltend und skeptisch eingestellt. Die Tatsache, dass jemand in früherer Zeit eine Strasse nach dem Reiseschriftsteller René Gardi benannte, ist Geschichte. Und dieser Geschichte sollte man sich stellen. Eine Kommission entschied damals, dass sich auch spätere Generationen an Gardi erinnern sollten. Diese Erinnerungsarbeit geht immer weiter. 

Das Strassenschild erinnert also nicht nur an den Reiseschriftsteller und Dokumentarfilmer Gardi, sondern auch an den Entscheid jener Zeit, ihn zu ehren?
Durchaus, und da die Vergangenheit kein monolithischer Block ist, werden historische Ereignisse von den jeweiligen Generationen immer wieder neu beurteilt. Das führt nun seit einiger Zeit zu Forderungen, Denkmäler wegzuräumen oder gar zu stürmen und Plätze und Strassen umzubenennen. Das halte ich für falsch. 

Warum?
Weil wir die Historizität, die Geschichtlichkeit der Ereignisse wachhalten sollten. Wir sind keine Talibans, die Statuen wegsprengen, die nicht ihrem Glauben entsprechen. Wer jetzt schnell eine Strasse umbenennt oder eine Statue vom Sockel holt, verweigert die Auseinandersetzung mit dem historischen Hintergrund. 

Aber es ist eine Tatsache, dass Aspekte von René Gardi heute sehr negativ bewertet werden.
Es geht mir nicht um Verharmlosung solcher Taten, sondern um den Umgang mit Erinnerung. Entscheidend ist doch die Frage, welche Aspekte einer Biografie, welche Leistungen werden als wichtig erachtet. Solche Entscheide sind immer selektiv, zeitlich und kulturell gebunden. Für mich als Historiker ist es wichtig, dass die Komplexität dieser Erinnerungsarbeit bei der interessierten Bevölkerung ankommt. Doch genau das wird verhindert, wenn man jetzt talibanmässig die Erinnerungsstücke aus dem öffentlichen Raum entfernt. 

Der Strasse einen neuen Namen geben, ist aus Ihrer Sicht also kontraproduktiv?
Ja, und wenn man alle Geehrten in der Stadt Bern genauestens überprüfen würde, wären wohl noch etliche auf der Abschussliste. Ich denke etwa an Kriegshelden, die kaum in jeder Hinsicht eine lupenreine Weste haben. Oder der Mediziner Albrecht von Haller: Seine Erkenntnisse aus dem 18. Jahrhundert basieren sehr oft auf Tierversuchen. Das würde man heute nicht mehr tolerieren.

Weg also mit Haller, Gardi und Co?
Historische Figuren, unsere Geschichte lässt sich nicht entsorgen. Vielmehr braucht es eine kritische, vernünftige Aufarbeitung. Zum Beispiel, indem die Namensgebung transparent gemacht und kontextualisiert wird. Aktionismus und Aktivismus aus Wut und Empörung sind dabei nicht dienlich.

Wer entscheidet letztlich über Strassennamen?
Jedenfalls ist es kein rein historisch-wissenschaftlicher Entscheid, sondern auch ein kultureller und politischer.  Die Namen von Strassen und Plätzen spiegeln vor allem Deutungen der Vergangenheit im Licht aktueller Befindlichkeiten wider. Zurzeit ist die erinnerungspolitische Debatte stark moralisch und normativ aufgeladen. Die heutigen Helden sind gewissermassen die früheren Opfer der Geschichte. Zudem: Wer sich moralisch im Recht fühlt, will eine rasche Umsetzung der Forderung. Das kann zu Schnellschüssen verleiten, ohne die Hintergründe genügend miteinzubeziehen. Zudem frage ich mich ab und zu, ob diese Art von Debatten eine kompensatorische Funktion haben.

Wie meinen Sie das?
Wir stehen vor grossen globalen Herausforderungen: Klima, Migration, neuer kalter Krieg zwischen Supermächten, Pandemie. Aus Verzweiflung darüber, dass es für all das keine rasche Lösung gibt, sucht man möglicherweise Symbolhandlungen, die helfen sollen, das Unbehagen zu tilgen.

Interview: Katharina Kilchenmann, reformiert.info

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