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«Die Kirche sollte auf Vertrauen statt Kontrolle setzen»

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30.08.2021
Mit Information und Gemeinsinn lasse sich mehr erreichen als mit restriktiven Massnahmen, sagt der Theologe und Ethiker Frank Mathwig. Und der Kirche biete sich die Chance, dafür den Beweis zu erbringen.

Die Corona-Infektionen nehmen zu. Die Diskussion um die Ausweitung des Impf-Zertifikats erhält neue Brisanz. Sollen Kirchgemeinden reagieren und nur noch geimpfte, genesene oder getestete Personen in den Gottesdienst lassen?
Frank Mathwig: Nein. Das widerspricht den derzeitigen Bestimmungen des Bundesrates. Unabhängig davon wären aus heutiger Sicht Eintrittsbedingungen für Kirchen das falsche Signal. Allerdings ändert sich gerade die Situation. Besorgniserregend sind weniger die steigende Anzahl der Neuinfektionen als die zunehmende Belastung der Spitäler. Niemand kann heute sagen, in welcher Situation wir uns morgen oder übermorgen befinden werden. Möglicherweise hat sich Ihre Frage bald erübrigt, wenn der Bundesrat eine Ausweitung der Zertifikatspflicht beschliesst, von denen auch die Kirchen betroffen sein können.

Mit dem Impf-Zertifikat könnten Schutzmassnahmen gelockert werden.
Das war die Idee hinter der Impfung, einer überstandenen Infektion oder einem negativen Test. Aktuell erhält diese Hoffnung einige Dämpfer: Trotz doppelter Impfung steigt die Anzahl der Infektionen selbst in durchgeimpften Ländern wie Israel und Malta. Wir wissen noch sehr wenig über die Ursachen solcher Impfdurchbrüche. Ernüchternd sind auch die Erkenntnisse zu der Übertragbarkeit des Virus durch geimpfte Personen. Selbst wenn nur noch Personen mit Impf-Zertifikat zum Gottesdienst zugelassen würden, wäre die Kirche kein pandemiesicherer Ort und virenfreier Raum.

Aber etwas beruhigter Abendmahl feiern würde ich wohl schon mit der Gewissheit, dass die Personen neben mir getestet sind.
Das hätte gewiss einen beruhigenden Effekt. Aber welche Forderung steckt hinter Ihrem Bedürfnis? Eine Pflicht der anderen, damit Sie sich entspannter fühlen? Eine Abendmahlsgemeinschaft zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sich die Anwesenden gegenseitig als Vertrauen stiftende Verantwortungsgemeinschaft wahrnehmen.

Gemeinschaft ohne Ansteckungsrisiko gibt es nicht?
Gemeinschaft bedeutet, sich im Positiven wie Negativen den Wirkungen der anderen auszusetzen. Die Impfung bietet einen Schutz vor schweren Infektionsfolgen. Dieser Schutz ist aber ein relativer, wie uns die aktuellen Entwicklungen vor Augen führen. Die Kirchen verfügen über kein epidemiologisches oder virologisches Sonderwissen. Auch sie überblicken nicht den weiteren Pandemieverlauf. Aber ihnen bieten sich Chancen, wenn sie an Freiwilligkeit, Verantwortung und Gemeinschaftssinn appellieren, statt auf Zwangsmassnahmen zu warten.

Warum?
Die für die liberale Gesellschaft ungewohnten Pandemiemassnahmen provozieren die problematische Reaktion, dass freiwillig nichts mehr funktioniere. Gerade am Anfang der Pandemie war der Ruf nach staatlichen Massnahmen und Sanktionen laut. Gegen diese Mentalität können die Kirchen eine Kultur des Vertrauens stärken und deutlich machen: «Wir brauchen keine Sanktionen.» Das bedeutet keine Ablehnung der staatlichen Schutzmassnahmen. Aber eine freie Gesellschaft appelliert immer an die Vernunft und Verantwortungsfähigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger. Mehr noch: Sie muss ihre Vernunft und Verantwortungsfähigkeit voraussetzen.

Und die Kirche könnte mit einem Vertrauensvorschuss vorangehen?
Ja. Ich sehe die Kirche als ein ideales Experimentierfeld und Vorbild für eine pandemiefähige Gesellschaft.

Und was ist eine pandemiefähige Gesellschaft?
Erstens eine vertrauensvolle Gesellschaft. Die Alternative dazu wäre eine Kontrollgesellschaft, die ihre Freiheiten gegen wechselseitiges Misstrauen eintauscht. Und zweitens eine informierte Gesellschaft. Neueste Studien zeigen, dass es grosse Bevölkerungsgruppen gibt, die nicht wissen, wie sie sich angemessen verhalten und vor dem Virus schützen können. Die Kirchen können in beiden Bereichen wichtige Impulse geben, indem sie einen Gemeinschaftssinn befördern, der den Schutz aller Gesellschaftsmitglieder miteinschliesst. Damit können sie einiges bewirken, um restriktive Massnahmen zu vermeiden.

Bedeutet das, dass Kirchgemeinden eine gewisse Gelassenheit entwickeln müssen im Umgang mit Personen, die sich weder testen noch impfen lassen?
Wir können gelassener sein: Einerseits, weil das Risiko eines schweren Infektionsereignisses angesichts der Anzahl der geimpften Personen geringer geworden ist als noch vor anderthalb Jahren. Und andererseits, weil wir als Kirchen eine Nicht-Impfung nicht mit Verantwortungslosigkeit gleichsetzen sollten. Viel anspruchsvoller ist es aber, diese Gelassenheit zu bewahren, wenn sich die Situation wieder verschlechtern sollte.

Die verhärteten Fronten in der Impfdiskussion deuten nicht darauf hin, dass wir bald in den Vertrauensmodus zurückkehren.
Ich bin nicht sicher, ob die Vertrauensfrage daran scheitert. Was wäre, wenn sich zeigen sollte, dass die Impfung die erhofften gesellschaftlichen Wirkungen verfehlt? Wären damit wirklich die Impfskeptikerinnen und Impfskeptiker bestätigt oder hätte nicht vielmehr das Virus seine Gefährlichkeit bewiesen? Jedenfalls käme der Applaus aus einer Ecke, über den sich keine Seite freuen könnte. Zur Zeit der Abstandsregeln beklagten die Menschen zurecht das gesellschaftliche Auseinanderfallen. Jetzt, wo die Gesellschaft wieder zusammenkommen kann, dividiert sie sich im Impfstreit auseinander. Eine liberale Gesellschaft kann die Pandemie nur im Vertrauensmodus bewältigen. Und eine vertrauensvolle Gesellschaft zeigt sich in ihrem Mut zur Intransparenz. Eine Transparenzgesellschaft ist keine freie Gesellschaft.

Manchmal ist Transparenz nur ein schönes Wort für Kontrolle?
So ist es. Gerade die Kirchen sollten Räume sein, in denen alle Menschen willkommen sind, und Versammlungen, die auf Vertrauen statt auf Kontrolle setzen. Vertrauen gibt es aber nur dort, wo Menschen wechselseitig Verantwortung übernehmen.

Interview: Felix Reich, reformiert.info

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