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«Sich impfen zu lassen ist auch ein Akt der Nächstenliebe»

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01.09.2021
Restaurant, Kino oder Fitness: In Zukunft könnte ein Eintritt nur noch mit Covid-Zertifikat möglich sein. Warum dieses nötig und moralisch richtig ist und welche Rolle die Kirche dabei spielt, erklärt der Ethiker und evangelische Theologe Michael Coors.

Ist der gesellschaftliche Friede mit Einführung eines Covid-Zertifikats gefährdet?
Michael Coors: Das Problem ist nicht, dass die Zertifikate eine Zweiklassengesellschaft schaffen. Sondern viel mehr, dass die Gesellschaft derzeit in zwei Gruppen auseinanderfällt, in Geimpfte oder Genesene und Nichtgeimpfte. Dies hat natürlich handfeste Konsequenzen für das Zusammenleben.

Nämlich?
Die einen sollen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen dürfen, die anderen nicht. Dennoch scheint dies im Pandemiefall gerechtfertigt. Denn wenn man die Zertifikate nicht einführt und damit potentielle Hotspots in Kauf nimmt, stellt das auch für all jene Menschen eine Bedrohung dar, die sich noch nicht haben impfen lassen können oder bei denen die Impfung nicht wirkt. Das sind ziemlich viele, unter anderem Kinder unter 12 Jahren, die von der Delta-Variante zunehmend bedroht sind, die jetzt deutlich häufiger hospitalisiert werden müssen. Sie verdienen den Schutz der Gesellschaft. Führt man kein Covid-Zertifikat ein, schliesst man all diese Menschen vom gesellschaftlichen Leben aus.

Dann sind die Freiheiten der Geimpften bzw. der Schutz der unverschuldet nicht Geimpften höher zu gewichten als die Freiheiten der Ungeimpften?
Ja, mir scheint dies klar die gerechtere Variante zu sein. Wer sich und andere durch die Impfung schützt und damit auch etwas dazu beiträgt, dass die Pandemie eingedämmt wird, soll auch das Recht haben, wieder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Man kann es auch umdrehen und mit der rechtlichen Logik argumentieren. Der Staat muss begründen, warum er Freiheitsrechte entzieht. Zu Beginn der Pandemie war das primäre Argument die Überlastung des Gesundheitssystems, in deren Folge viele Menschen gestorben sind. Da Geimpfte beziehungsweise Genesene epidemiologisch keine Bedrohung mehr darstellen, kann für sie ein Lockdown meines Erachtens rechtlich gar nicht verhängt werden.

Ungeimpfte müssen künftig schlicht damit leben, von gewissen Aktivitäten ausgeschlossen zu werden?
Wir sind heute an einem Punkt in dieser Pandemie, wo hierzulande jeder sofort einen Impftermin vereinbaren könnte. Zu Beginn der Impfkampagne dem Alter nach wäre ein Covid-Zertifikat natürlich diskriminierend gewesen, weil nicht jeder Zugang zur Impfung hatte. Davon kann jetzt keine Rede sein. Ein Zertifikat ist wie ein Mini-Lockdown für all diejenigen, die nicht oder noch nicht geimpft sind. Gesamtgesellschaftlich ist dies auf jeden Fall das kleinere Übel. Ausserdem besteht ja auch die Möglichkeit sich testen zu lassen – das sollte meiner Meinung nach aber lediglich eine Übergangslösung sein, da die Tests auch falsche Resultate liefern können.

Das Gesundheitssystem droht erneut an seine Grenzen zu kommen. Soll ein Ungeimpfter auf jeden Fall das Recht auf eine Behandlung auf der Intensivstation haben?
Grundsätzlich gilt der Auftrag, das Leben und die Gesundheit von Menschen zu schützen, unbedingt für alle. Ein Alkoholiker, der seine Leber kaputt getrunken hat, wird ja auch versorgt. Genau wie der Leistungssportler, der sich schwer verletzt hat. An diesem ethischen Grundsatz ist auch bei Covid-Patientinnen und Patienten festzuhalten. Wenn auf der Intensivstation eine Triage durchgeführt werden muss, dann hat sie am ehesten nach der Erfolgsaussicht der Behandlung zu erfolgen. Geimpfte verfügen über einen gewissen Schutz und sind in dieser Hinsicht vielleicht in der günstigeren Ausgangslage, das wäre dann aber ein indirektes Kriterium, nicht das primäre.

Verstehen Sie persönlich die Wut der Ärzteschaft und des Pflegepersonals über freiwillig ungeimpfte Patienten, die schwer an Covid erkrankt sind und Betten belegen?
Absolut. Trotzdem müssen wir am moralischen Standard festhalten, dürfen Gesundheit und Hilfeleistung nicht an eine Art von Verdienst koppeln. Das würde sonst die moralische Grundlage des ganzen Gesundheitssystems aushöhlen.

In den Medien ist zu lesen, dass derzeit insbesondere ungeimpfte Menschen mit Migrationshintergrund hospitalisiert werden müssen. Wie kann einer Stigmatisierung begegnet werden?
Wir alle sind in der Pflicht, bestimmte rassistische Stereotypen nicht ständig zu wiederholen. Bereits zu Beginn der Pandemie wurden durch gewisse Medien Bilder von einem Wohnblock in Deutschland verbreitet, in dem viele infizierte Migrantinnen und Migranten wohnten. Aber man muss sich bewusst sein, dass das Virus ja nichts mit dem Migrationshintergrund zu tun hat, sondern mit dem sozialen Milieu, dem Zusammenleben vieler Menschen auf engstem Raum. Unsere Aufgabe als Gesellschaft ist es, alle Leute unabhängig von Nationalität und Status in den gesellschaftlichen Dialog zu inkludieren. Nur so haben sie die Möglichkeit, sich über die Impfung zu informieren.

Die Kirche spielt gerade im Bereich Migration eine Schlüsselrolle. Sollte sie sich aktiv in die Impfdebatte einmischen? Etwa im Flüchtlingstreff Flyer auflegen und zur Impfung ermuntern?
Ich finde unbedingt, dass die Kirche für Aufklärung sorgen soll, gerade auch bei niederschwelligen Angeboten wie etwa Flüchtlingstreffs. Sie kann ihre aktive Rolle bestens damit begründen, dass sich impfen zu lassen nicht nur Eigennutzen, sondern vor allem auch einen Schutz für andere Menschen mit sich bringt ­– und somit dem christlichen Gebot der Nächstenliebe entspricht.

Interview: Sandra Hohendahl-Tesch, reformiert.info

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