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«Kirchen entstehen nicht einfach so»

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07.04.2016
Sabrina Müller hat ihre Doktorarbeit zu «fresh expressions of Church» gemacht und ist selbst zum Kopf der Fresh-Expressions-Bewegung geworden. Im Interview erzählt sie, warum es auch in der Schweiz andere Formen von Kirche braucht – und warum es wichtig ist, Fehler zu machen.

Sabrina Müller, Sie haben die «fresh expressions of Church» (fxC) in England untersucht. Warum lohnt sich für uns ein Blick darauf?
Es ist ein Blick in unsere Zukunft: An der Church of England zeigt sich, was auch auf uns zukommen könnte. Als Staatskirche ist sie unserer Landeskirche 30 Jahre voraus: bei der Stellung der Kirche in der Gesellschaft, der Finanzsituation und auch der Religionsvielfalt.

Sie sagen in Ihrem Buch, eine fxC beginne mit zuhören. Was meinen Sie damit?
Zuerst muss man die Nöte und Bedürfnisse der Leute und ihre spirituellen und religiösen Fragen herausfinden. Und zuhören heisst auch, Statistiken und Gesellschaftsentwicklungen zu analysieren. Eine Pfarrerin in Liverpool zum Beispiel hat ein Jahr lang nur zugehört: Sie lief durch die Stadt und sprach mit den Leuten.

Und hat sich dann ein Programm für ein bestimmtes Milieu ausgedacht?
Nein, das wäre genau der falsche Weg. Denn es geht nicht darum, was sie als Theologin als passend ansieht oder sich unter Kirche für eine bestimmte Gruppe vorstellt.

Sondern?
Ihr Job ist es zu coachen: Die Leute zu ermutigen, selber Kirche zu sein. Dazu muss sie die kirchliche Tradition kennen und wertschätzen, aber sich auch die Freiheit nehmen, mit ihr zu spielen.

Was heisst das?
Nehmen wir zum Beispiel die Tradition der Kirchenlieder. Singen ist eine Kommunikationsform des Evangeliums. Es ist aber absurd, in gewissen Kreisen zu sagen: «Wir singen jetzt ein Kirchenlied.» Da muss man andere Ausdrucksformen und Anknüpfungspunkte finden.

Der Erfolg einer fxC scheint also stark von der Einbindung der Leute abzuhängen.
Ja, Partizipation ist das A und O. Das geht aber viel weiter, als im Gottesdienst eine Lesung zu machen oder einen Kuchen für den Kirchenkaffee zu backen. Obwohl das auch gut und wertvoll ist. Es geht darum, massgebend Verantwortung zu übernehmen: theologisch, inhaltlich und strukturell. Theologie wird in den fxC gemeinsam erarbeitet, und auch Laien leiten Gottesdienste, Meditationen und Gebete.

Sind Laien denn theologisch genug kompetent dafür?
Was ist denn theologische Kompetenz und wer definiert sie? Meines Erachtens hat theologische Kompetenz viel mit theologischer Sprachfähigkeit zu tun: Mit der Reflexion spiritueller Erfahrungen und der gemeinsamen Einordnung in eine Tradition. Das ist dann sehr vielfältig und wesentlich vom Kontext abhängig.

Den fxC wird auch vorgeworfen, gar nicht Kirche zu sein.
Ja, das verwundert mich. Für die Leute, die ich interviewte, war es selbstverständlich, dass sie in der kirchlichen Tradition der Church of England stehen, dieser jedoch auf eine andere Art Ausdruck verleihen. Alle fxC, die ich untersuchte, beanspruchen den Status Kirche. Und Jugendliche, welche vorher noch nie Kontakt zu Kirche hatten, konnten theologisch argumentieren, warum ihre fxC Kirche ist. Meine Dissertation fragt ja genau nach der Ekklesiologie in den fxC. Die Forschung hat gezeigt, dass diese in den fxC wirklich fundiert ist.

Die Anbindung an die Staatskirche ist den fxC also wichtig?
Ja. Und diese zeigt in England eine grosse Bereitschaft, die fxC zu integrieren. Interessant ist auch, dass in Diözesen, in denen der Bischof den fxC gegenüber kritisch eingestellt ist, auch weniger fxC entstehen. Es ist also eine Illusion zu glauben, dass fxC einfach so entstehen. Die Unterstützung ist entscheidend. In der Schweiz fehlt dieser Support noch im Bezug auf die nationale ökumenische Bewegung, sowohl finanziell wie ideell. In einzelnen Landeskirchen sieht man jedoch lokale Initiativen und Freiraum, der langsam entsteht. Schlussendlich reicht es aber nicht, wenn ein Kirchenrat sagt: «Macht einfach mal.» Man muss das schon fördern wollen.

Sie finden, die Landeskirchen sollten ein stärkeres Interesse an fxC haben?
Wir bedienen in unseren Kirchen nur etwa zweieinhalb von zehn Milieus. Wir müssen nicht abschaffen, was wir jetzt haben. Aber wir brauchen Alternativen und könnten jetzt noch die Weichen stellen, solange wir noch die Mittel dazu haben. Wir müssen uns wirklich fragen, wie wir Kirche sein können für ein Künstlermilieu, für junge Menschen oder Postmaterielle.

«Das setzt eine Mentalitätsveränderung der Pfarrpersonen, Angestellten und Gremien voraus», schreiben Sie in Ihrem Buch. Was heisst das?
Es bedeutet, nicht nur das eigene Gärtchen zu sehen, sondern den gemeinsamen Regenwald. Es setzt voraus, kirchliche Vielfalt zu wollen und grosszügiger zu werden in der Frage, was Kirche sein kann. Dazu gehört, andere Theologien und Liturgien zuzulassen, auch wenn sie mir nicht entsprechen. Und Kirche auch als Beziehung, Gemeinschaft und Dialog zu sehen. Weiter braucht es Risikofreudigkeit und schliesslich geht es darum zu lernen, Fehler zu machen.

Wie meinen Sie das?
Es ist besser einen Fehler zu machen, als gar nicht zu probieren. Vor zehn Jahren sind in England noch vier von fünf fxC gescheitert. Heute ist es noch eine von zehn.

Nochmals zurück zur Pfarrerin in Liverpool: Was ist denn aus ihrem Zuhören entstanden?
Es entstand eine Kirche mit alleinstehenden Senioren und Obdachlosen. Sie backen jetzt auch Brot zusammen, welches sie später mit anderen Menschen teilen.

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Raphael Kummer / ref.ch / 7. April 2016

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