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Von Helden, die keine sein wollten

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30.09.2016
«Helden der Strasse» oder «Prix Courage». Immer wieder werden Leute für ihr mutiges Eingreifen ausgezeichnet und in den Medien gefeiert. Zivilcourage scheint Bürgerpflicht. Doch ist sie auch eine christliche Tugend?

Er stellte sich schützend vor eine Prostituierte, übernachtete bei korrupten Beamten und wetterte gegen Bankiers. Hatte dieser Mann Zivilcourage? «Ja, Jesus hatte sicher viel davon», sagt Georg Pfleiderer. «Bei der Tempelreinigung und der Szene mit der Ehebrecherin stellt er sich als Einziger mutig gegen ganze Gruppen, welche die ‹Mehrheitsgesellschaft› vertreten.»Für den Ethiker an der Theologischen Fakultät Basel forderte Jesus mit diesen Zeichen die Leute auf, darüber nachzudenken, was wirklich Gottes Wille ist und entsprechend zu handeln. Eine Kirche, die in der Nachfolge Christi steht, müsste bereit sein, sich für Unterdrückte einzusetzen und unbequeme Wahrheiten auszusprechen, so Georg Pfleiderer.

Ein Blick in die Bibel und die Kirchengeschichte zeigt, dass sich die Zivilcourage wie ein roter Faden durch die Epochen zieht: Die alttestamentlichen Propheten protestierten gegen soziale Ungerechtigkeiten, Jesus stellt mit dem Doppelgebot der Liebe die Solidarität ins Zentrum des Glaubensleben. Später treten Gläubige immer wieder für andere ein, werden verhaftet, gefoltert und hingerichtet – und manchmal «heilig» gesprochen. Als leuchtendes Beispiel für christliche Zivilcourage steht Dietrich Bonhoeffer. Der Theologe beteiligte sich am Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Auf seinen Auslandsreisen soll er die Alliierten über die Umsturzpläne und die Widerstandsgruppe informieren. 1943 wird er verhaftet. Als Stauffenbergs Anschlag auf Hitler fehlschlägt, fliegt Bonhoeffer auf. Im April 1945 wird er im KZ Flossenbürg erhängt.

Gehorsam versus Zivilcourage
Bonhoeffers Briefe und Schriften zeugen davon, wie sehr er mit sich ringt. 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, schreibt er an Vertraute: «Wir haben in diesen Jahren viel Tapferkeit und Aufopferung, aber fast nirgends Zivilcourage gefunden, auch bei uns selber nicht.» Tapferkeit nennt Bonhoeffer die Opferbereitschaft der Soldaten im Feld. Doch an Zivilcourage mangle es. Nicht aus Feigheit, sondern weil sich die Deutschen ganz an den «Gehorsam zur Sache» und an den Eid auf den Führer gebunden fühlten, so Bonhoeffer Schluss.

Die antisemitischen Ausschreitungen, die Judengesetze, der Krieg und die Gleichschaltung der Kirche durch die Nazis drängen den Pazifisten zur Einsicht, dass die Kirchen mehr als nur den Opfern beistehen müssen: «Wenn ein Betrunkener mit dem Auto fährt, genügt es nicht, das Opfer unter dem Rad zu verbinden, man muss dem Rad selbst in die Speichen greifen.» Bonhoeffers Ethik des aktiven Widerstands wird zur Basis für die Befreiungstheologie in Südamerika und Afrika. Dietrich Bonhoeffer wird heute in den evangelischen Kirchen beinahe als «Heiliger» verehrt. Sein Mut sei beispielhaft, sagt Christoph Ramstein, Leiter der Stadtmission Basel. Schon zwei Tage nach Hitlers Machtergreifung habe er die Nazis in einer Rundfunkansprache angegriffen.

Der Bonhoeffer-Kenner führt das couragierte Auftreten auf dessen Elternhaus und Umfeld zurück: In der Mutter, einer frommen Frau, und dem Vater, einem Psychiater, fand er eigenständige Denker. Und in der Grossmutter eine mutige Kämpferin, die sich von der SA nicht einschüchtern liess, als sie in jüdischen Läden einkaufte. Der Theologe hatte zudem durch seine Reisen in die USA, nach Spanien oder in die Schweiz ein weltoffenes und ökumenisches Weltbild. Aber Bonhoeffer wusste, seine Bestimmung liegt in Deutschland. «Statt sich in New York in Sicherheit zu bringen, kehrte er ins Deutsche Reich zurück», sagt Ramstein, «wohl wissend, welches Schicksal ihn erwartete.»

Zivilcourage ist erlernbar
Zivilcourage beruht auf Werteüberzeugung und der Bereitschaft zur Verantwortung und zur Solidarität mit Schwächeren, stellt Veronika Brandstätter fest. Die Professorin am Psychologischen Institut der Universität Zürich beschäftigt sich seit Jahren mit mutigen Menschen. Die Forschung zeigt, Zivilcourage ist erlernbar. Es brauche Mut und das Wissen, wie man im konkreten Fall eingreifen kann.

In Kursen sensibilisiert sie und ihr Team die Teilnehmenden für die Situation und vermittelt Techniken. «Ähnlich wie in einem Nothelferkurs sollen sie eine Routine entwickeln», so die Psychologin. Nichts zu tun und zuzuschauen, sei keine Lösung. Untersuchungen hätten gezeigt, dass das Schweigen der Mehrheit beispielsweise als Zustimmung für rassistische Übergriffe gedeutet werde. Was Zivilcourage für die Kirchen konkret bedeute, lasse sich nicht so einfach sagen, erklärt Georg Pfleiderer. Ein Grossteil der Forderungen sei im modernen Rechts- und Sozialstaat der Zivilgesellschaft bereits realisiert. «Zivilgesellschaft ist der Appell an die Gesellschaft, ihren eigenen Ansprüchen besser gerecht zu werden – heute zum Beispiel vor allem in der Flüchtlingsfrage.

Tilmann Zuber, 30.9.2016

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