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«Ich kann doch nicht wegschauen»

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30.09.2016
Jael Schärli engagiert sich für Flüchtlinge.

Jael Schärli, Sie sind eine junge Frau. Andere in Ihrem Alter feiern Partys in Ibiza oder liegen am Strand in Mallorca. Sie reisen in den Ferien in Flüchtlingscamps?
Ich kann doch nicht wegschauen. Flüchtlinge sind Menschen wie du und ich, die sich in Not befinden. Was würden sie ohne Untertützung tun? Woher erhalten sie zu Essen? Auf der Balkanroute kamen uns Flüchtlinge in Shorts im strömenden Regen entgegen. Sie erhielten von uns trockene Kleidung. Das ist doch wertvoller, als wenn ich am Strand liege.

Viele, die Elend und Not in den Favelas oder den Slums antreffen, schauen weg. Warum Sie nicht?
Ich weiss es nicht. Wenn man die Zustände in den Flüchtlingslagern sieht, sollte man handeln. Wir selber wollen so nicht leben, warum sollten es andere? Sie haben doch die gleichen Rechte. Manchmal ist es für mich schwierig zu verstehen, warum andere dies nicht so sehen.

Wie sind Sie auf das Projekt «Rastplatz» gestossen?
Das geschah spontan. Letzten Sommer schloss ich mein Studium ab und hatte etwas Zeit. Doch ich wollte nicht in die Ferien nach Kroatien fahren, während die Flüchtlinge durch dieses Land zogen. Als ich von der Gründung von «Rastplatz» hörte, schrieb ich ihnen, dass ich sie unterstützen möchte. Seither arbeite ich im Kernteam mit.

Sie haben die Flüchtlinge auf dem Balkan begleitet.
Ja, wir folgten der Balkanroute, angefangen in Kroatien und später in Serbien. Im Dezember schlugen wir unser Zelt im berüchtigten Camp bei Dunkerque auf. In diesem August waren wir in Italien.. Das Camp in Dunkerque (nähe Calais) war eine besondere Herausforderung. Die Zustände waren katastrophal. Es herrschte Winter, der Boden war voller Schlamm, manchmal war er gar gefroren. Es gab kaum sanitäre Anlagen. Die Flüchtlinge schliefen in Zelten. Unser Zelt, in dem wir Essen und Kleidung ausgaben, stand mitten im Lager. Und die Schleuser waren präsent.

War es gefährlich?
Angst und Spannungen beherrschten die Stimmung. Menschen zu schmuggeln ist ein lukratives Geschäft. Zwischen den Schleuserbanden kam es zu Auseinandersetzungen. In der Küche beispielsweise setzten Schmuggler Flüchtlinge unter Druck. Ich versuchte zu vermitteln. Das sind heikle Momente, wenn man weiss, vor kurzem wurde im Wald geschossen.

Hatten Sie nie Angst?
Nein. Wir hatten ein gutes Verhältnis zu den Flüchtlingen. Ohne ihre Hilfe beim Kochen oder Sortieren der Kleider hätte es nicht funktioniert. Wir waren zu wenige.

Mit 23 Jahren waren sie als Menschenrechtsbeobachterin in der Westbank stationiert.
Ja, damals gab es brenzlige Situationen, die einen verunsicherten. Wenn Soldaten mit Waffen vor einem stehen, ist dies unangenehm. Ich realisierte manchmal erst später, wie gefährlich eine Situation war.

Was macht man in diesem Augenblick?
Die Ruhe bewahren, nicht die Nerven verlieren, sonst eskaliert die Lage. Man muss sich auf die Situation einlassen und die Menschen wahrnehmen. Empathie hilft.

Angst hat auch die Gegenseite.
Ja. Auch diese Angst kann rasch in Gewalt umschlagen.

Glauben Sie, dass Sie durch Ihr Engagement die Welt verändern?
Wenn das so einfach ginge. Aber es ist doch schon wertvoll, wenn man einem Menschen einen Tag in seinem Leben verbessern und erleichtern kann.

Haben Sie die Erfahrungen geprägt?
Man wird weltoffener, geht leichter auf andere Kulturen ein und nimmt das eigene Leben nicht mehr so schwer. Wenn man die Not der anderen sieht, wird man sich bewusst, dass die eigenen Probleme oftmals Peanuts sind.

Hat sich Ihr Menschenbild durch ihr Engagement verändert?
Medien beeinflussen unsere Perspektive. Ich habe gemerkt, dass ich mir meine Meinung über Menschen nicht aus den Medien bilden darf. Durch den persönlichen Kontakt zu den Menschen, denen ich auf der Flucht begegnete, habe ich ein völlig anderes und eigenes Bild von ihnen.

Sie meinen, die Medien zeichnen ein negatives Bild von den Flüchtlingen?
Ich denke, da werden Ängste geschürt. Wenn die Schweizer Bevölkerung mehr Kontakt zu den Flüchtlingen hätte, hätte sie ein anderes Bild. Der Austausch ist enorm wichtig und bereichernd, sowohl für die Flüchtlinge wie die Einwohner der Schweiz.

Haben Sie einen besonderen Gerechtigkeitssinn?
Ich finde, andere haben die gleichen Rechte wie wir. Ich führe ein schönes Leben – teils geht dies zu Lasten der Ärmsten in den Ländern des Südens. Warum sollte ich mich da nicht für andere einsetzen? Meist ist die Hilfe ganz banal und alltäglich: Auf der Balkanroute musste eine Frau unbedingt auf die Toilette. Für eine Muslimin war dies im Freien schwierig. Ich zeigte ihr den Weg zum «ToiToi». Als sie rauskam, strahlte sie über das ganze Gesicht. So einfach kann man helfen. Man braucht dazu kein Held zu sein.

Interview: Tilmann Zuber, 30.9.2016

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