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«Es herrscht eine gewisse Ernüchterung»

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07.09.2022
Die Stiftung Gamaraal unterstützt Holocaust-Überlebende in der Ukraine. Gründerin Anita Winter über die Arbeit in einem vom Krieg gebeutelten Land.

Frau Winter, vor drei Jahren hat Ihre Stiftung das Engagement auf die Ukraine ausgeweitet. Warum ausgerechnet dieses Land?
Das war ein Zufall. Wir  hätten nie im Leben gedacht, dass es in Europa beziehungsweise in der Ukraine wieder Krieg geben könnte. Wir setzen uns ja dafür ein, dass es nie wieder passiert. Wir wollten schon länger unsere Tätigkeiten erweitern. Gleichzeitig kontaktierten uns Menschen und fragten, ob wir nicht Holocaust-Überlebende in dem Land unterstützten könnten. Weil ein Teil meiner eigenen Familie aus der Ukraine stammte, liegt mir unser Engagement dort besonders am Herzen. 

Sie sind selbst Enkelin von Holocaust-Überlebenden.
Ja. Mein Grossvater verlor seine gesamte Familie an nur einem Tag. Seine Eltern und alle seine Geschwister, alle Onkel, alle Tanten wurden auf dem Marktplatz von Stanislavov , das in der heutigen Ukraine liegt, erschossen. Er überlebte als einziger seiner grossen erweiterten Familie. 

Wie gross ist Ihr Engagement in der Ukraine?
Wir haben mit der westukrainischen Stadt Czernowitz begonnen, zu Beginn unterstützten wir rund 45 Holocaust-Überlebende in der Region. Viele sind mittlerweile leider bereits gestorben, nun leben dort nur noch 19 Personen, die den Holocaust überlebt haben. Kurz vor Corona wollten wir unsere Arbeit auf andere Gegenden ausweiten. Das konnten wir wegen der Pandemie nur in geringem Masse tun.

Inwiefern unterscheidet sich Ihre Hilfe von der, anderer jüdischer Organisationen?
Grundsätzlich unterstützen wir nicht nur jüdische Holocaust-Überlende, sondern auch Menschen, die während des Dritten Reichs politisch verfolgt wurden. Oder Menschen, die anderen verfolgten Bevölkerungsgruppen angehörten, wie etwa Sinti und Roma. Die von uns unterstützten Menschen erhalten drei Mal im Jahr Zuwendungen und wir helfen mit medizinischen Hilfsgütern, Hörgeräten, Inkontinenzartikeln und ähnlichem oder übernehmen Zahnarztrechnungen. An den jüdischen Feiertagen verteilen wir besondere Lebensmittel, etwa das ungesäuerte Matze-Brot. Es gibt auch andere jüdische Organisationen vor Ort, etwa die Jewish Claims Conference (JCC). Wir übernehmen die Leistungen, die sie nicht abdecken. 

Wie kommt Ihre Stiftung in der Ukraine in Kontakt mit den Holocaust-Überlebenden?
Mit Hilfe von sehr gut vernetzten Mitarbeitern vor Ort. Es braucht eine Vertrauensperson, die die Menschen daheim besucht. Holocaust-Überlebende sind oft sehr zurückhaltend gegenüber fremden Menschen. Und was viele nicht wissen: Sie sind oft nicht in jüdischen Organisationen oder Gemeinden aktiv. Das war für Juden im Dritten Reich das Todesurteil, deshalb vermeiden die Überlebenden solche Zugehörigkeiten. Viele sind Atheisten oder zum Christentum übergetreten. Meine Mutter etwa überlebte im Kloster als ein christliches Waisenkind. Sie hiess Margit Fern und ihre falsche Identität war Marguerite Fontaine. Manche haben nur dank einer falschen Identität überlebt und haben diese später oftmals auch behalten. 

Ein Grossteil der Arbeit Ihrer Stiftung ist das Aufzeichnen von Zeitzeugenberichten. Machen Sie diese Arbeit auch in der Ukraine?
Ja, regelmässig. Jede Lebensgeschichte ist einzigartig, sehr persönlich und von unermesslichem Wert. Die nächsten Generationen müssen wissen, wozu Menschen fähig sind. Diese Testimonials, das Erinnern an den Holocaust, sollen auch eine Warnung sein, welche schwerwiegende Folgen Rassismus und Antisemitismus haben können und sie sollen für den Wert und die Wichtigkeit von Toleranz sensibilisieren. Sie zeigen, wohin Antisemitismus und Rassismus führen können und wie wertvoll Toleranz ist.  Während der Pandemie konnten wir viele Zeitzeugenberichte nicht machen, wir waren sehr vorsichtig mit Blick auf Schutzmassnahmen. Nun sind wir vorwiegend damit beschäftigt, das nachzuholen. Ich habe auch den Eindruck, dass sich in der Schweiz zuletzt mehr Holocaust-Überlebende dazu entschlossen haben, ihre Geschichte zu erzählen. 

Wie erklären Sie sich das?
Viele wissen, es ist jetzt oder nie. Es lässt sich nicht länger aufschieben. Vielleicht liegt es auch daran, dass am Lebensende die Erinnerungen vermehrt zurückkommen, die Abwehrmechanismen dagegen schwächer werden. Ich denke auch, dass unsere Ausstellungen einiges ausgelöst haben. Während der Pandemie haben sich viele Holocaust-Überlebende gemeldet, manche hatten ihre Geschichte nicht einmal innerhalb der eigenen Familie erzählt.

Wie kommen die Holocaust-Überlebenden mit der Tatsache zurecht, dass es nun erneut Krieg gibt?
Auch in der Schweiz macht es vielen von ihnen sehr zu schaffen. Manche sind jahrzehntelang in Schulen gegangen und haben versucht zu sensibilisieren, ihre Geschichte erzählt, damit so etwas nie wieder geschieht. Nun haben wir alle den Eindruck, dass man noch mehr hätte tun müssen, dass dieses Engagement einfach nicht ausgereicht hat. Man könnte sagen, es herrscht eine gewisse Ernüchterung. 

Die JCC hat viele Holocaust-Überlebende aus der Ukraine ins Ausland gebracht. Waren Evakuierungen auch bei Ihnen ein Thema?
Wir haben es den Menschen, die wir betreuen, angeboten. Aber viele sind sehr alt und fragil und hatten Angst vor der Reise. Das ist teils tragisch. Wir unterstützen etwa eine Holocaust-Überlebende, die ihre Tochter ins Ausland geschickt hat, damit sie wenigstens in Sicherheit ist. Nun ist die alte Frau ganz alleine. Seit Kriegsanfang helfen wir nun aber auch Flüchtlingen in der Region um Czernowitz. Und wir haben eine Hotline für ukrainische Flüchtlinge eingerichtet, die Hilfe brauchen, egal ob in der Schweiz oder der Ukraine. In meinem Elternhaus in Baden haben wir ganz am Anfang zahlreiche Flüchtlinge aufgenommen.

Interview: Cornelia Krause, reformiert.info

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