«Kleidervorschriften gehören nicht in die Verfassung»
Andreas Tunger-Zanetti, kürzlich rief eine Leserin an und erklärte, sie wolle keine verhüllten Frauen in der Schweiz sehen. Ist dies verständlich?
Auch ich kenne schönere Anblicke als eine schwarz verhüllte Gestalt. Doch wir sind laufend mit Erscheinungen konfrontiert, die uns nicht gefallen. Als Bürgerinnen und Bürger müssen wir sie ertragen, sofern sie zu den Grundrechten gehören und niemandem schaden.
Ihre Forschung hat gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, in der Schweiz einer Frau in einer Burka oder einem Niqab zu begegnen, gering ist. Sie gehen von lediglich 30 Frauen aus, die sich so verhüllen. Warum wirft dieses Thema trotzdem solche Wellen?
Die Erscheinung irritiert ungemein, auch mich. Sie weckt bei den meisten Leuten Bilder, die uns die Medien von Krieg und Terrorismus aus dem Nahen Osten übermitteln. In diesen Gesellschaften werden Frauen tatsächlich unterdrückt. Deshalb verknüpft man den Niqab und die Burka reflexartig mit diesem Problem. Man verkennt jedoch, dass der Kontext, in dem diese Kleidung in Ägypten oder Afghanistan getragen wird, ein völliger anderer ist als hier in der Schweiz.
Wer trägt in der Schweiz eine Burka?
Die afghanische Burka kommt nicht vor. Den nahöstlichen Niqab tragen Frauen, die im frühen Erwachsenenalter den Islam für sich als bedeutsam entdeckt haben. Sie stammen aus muslimischen, christlichen und konfessionslosen Familien. Für sie ist diese Kleiderform wichtig als Akt ihrer Frömmigkeit. Dazu kommt: Sie wollen selbst bestimmen, wie viel sie von ihrem Körper in der Öffentlichkeit zeigen. Manchmal kommt noch eine Note des Protests gegen die Familie oder Gesellschaft hinzu.
So wie die grünen Haare bei den Punks?
Ja, soweit es den Protest betrifft, kann man dies mit grünen Haaren und dem Irokesenschnitt vergleichen. In Frankreich zeigen Studien, dass die religiöse Praxis bei manchen Burkaträgerinnen nicht so konsequent ist, wie ihre Kleidung glauben macht.
Die Vertreterin eines fortschrittlichen Islams Saïda Keller-Messahli bezeichnet die Burka als Kleidung des IS.
Da gehen die Assoziationen wild durcheinander. Die Forschung zeigt klar, dass in Europa zwischen Niqabträgerinnen und dem dschihadistischen Islam des IS nur am äussersten Rand Berührungspunkte bestehen. Natürlich gibt es ganz vereinzelt Niqabträgerinnen, die aus Westeuropa zum IS ausgewandert sind, auch aus der Schweiz ist ein Fall bekannt. Die grosse Mehrheit der Frauen, die sich verhüllen, bedient sich lediglich salafistischer Konzepte. Das heisst, sie legen die religiösen Quellen sehr buchstabengetreu aus.
Fakt ist, in islamischen Ländern wie Afghanistan, Saudi-Arabien oder dem Iran werden Frauen gezwungen, sich zu verhüllen, ansonsten drohen drakonische Strafen. Sie haben keine freie Wahl. Die Burka ist das Symbol dieser Unfreiheit.
Natürlich ist in diesen Ländern die Religion eng verknüpft mit staatlichen Regulierungen, die tief in die Privatsphäre der Bürger eingreifen. In der Schweiz haben wir einen völlig anderen Kontext. Hier kann die Frau frei wählen, was sie anziehen möchte.
Freiheit ja, aber die Kleidung bestimmt das Leben. Der Berner Imam Mustafa Memeti begrüsst die Initiative. Frauen, die eine Burka tragen, könnten sich nicht in die Gesellschaft integrieren, so seine Argumentation. In der Tat: Burkaträgerinnen haben auf dem Arbeitsmarkt einen schweren Stand.
Richtig, mit dieser Aufmachung finden Sie schwerlich eine Arbeitsstelle. Aber diese Frauen haben nicht die Absicht, sich zu bewerben. Einzelne sind Singles und gehen einem Beruf als Freischaffende nach, etwa in der Kosmetikbranche. Andere sind bewusst Hausfrau und Mutter und suchen keine Anstellung ausser Haus. So hat jede ihre Nische gefunden. Die Frage der Integration ist ein falscher Blickwinkel, die meisten dieser Frauen haben hier die Schulen besucht und reden Schweizerdeutsch.
Der Rat der Religionen, in denen auch die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz vertreten ist, lehnt die Initiative ab. Die Begründung lautet, dass die Verhüllung des Körpers Ausdruck der Ehrfurcht vor der Heiligkeit Gottes ist. Passt eine solche Argumentation in eine liberale Gesellschaft?
Diese Begründung sagt Gläubigen etwas. Sie sollte so formuliert werden, dass auch säkulare Menschen sie verstehen könnten.
Wie würden Sie dieses Argument übersetzen?
Kleidung ist eine höchst persönliche Angelegenheit, ebenso die Scham und die religiöse Praxis, über die jeder und jede selber bestimmen sollte, solange es die Grundrechte eines Dritten nicht einschränkt.
Im Zusammenhang mit dem Niqab reden alle vom politischen und radikalen Islam. Man übersieht, dass die allermeisten Muslime in der Schweiz einen sehr liberalen Glauben haben. Nur ein kleiner Teil besucht regelmässig die Moschee oder schickt seine Kinder in den Koranunterricht. Für sie ist die Verhüllung kein Thema.
Natürlich, die wenigsten tragen einen Niqab. Andererseits sollte man den Gedanken der Solidarität nicht unterschätzen. Das Ja zur Minarett-Initiative empfanden viele Muslime als Zeichen gegen den Islam, selbst wenn sie sich selber nie für den Bau von Minaretten eingesetzt hätten. Das Gleiche könnte nun wieder stattfinden. Die meisten Musliminnen in der Schweiz würden sich nie verhüllen, ihre Männer dies auch nicht wünschen. Trotzdem werden sie dies als Fusstritt gegen den Islam im Allgemeinen empfinden. Das stärkt bei ihnen das Gefühl, in der Schweiz Fremde zu sein. Und dies kann nicht im Interesse der Gesellschaft liegen.
Zum Schluss: Warum sollte man nach Ihrer Meinung nach die Initiative ablehnen?
Ich spreche jetzt als Bürger und nicht als Wissenschaftler: Kleidervorschriften haben nichts in der Verfassung zu suchen. Den radikalen Islam, den es in der Schweiz in einem sehr kleinen Ausmass gibt, bekämpft man mit anderen Mitteln.
Was ändert sich, wenn die Initiative angenommen wird?
Unmittelbar nichts. Aber es ist politisch nicht klug, einem Teil der Bevölkerung das Gefühl zu geben, hier nicht willkommen zu sein. Der eine oder andere könnte dies in Zukunft zum Anlass nehmen, Gewalttaten zu rechtfertigen. Es gibt Hinweise aus der Forschung, dass Verhüllungsverbote Länder wie Frankreich nicht sicherer machten, sondern eher zur Zielscheibe von islamisch begründeten Gewalttaten oder Anschlägen. Aber die Faktenlage für diese These ist noch nicht solide genug.
Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online
«Kleidervorschriften gehören nicht in die Verfassung»