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Ausgeschlipft

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17.07.2020

Von Franz Osswald

Kann man schöner sterben? Winzer Ulrich Schluckschnabel lag am Fusse der Treppe seines Weinkellers. Hier unten hatte er die schönsten Stunden seines Lebens verbracht, inmitten der Fässer, in denen sein preisgekrönter Schlipfer heranreifte. Lohn vieler Stunden harter Arbeit im Weinberg, in dem er die Reben hegte und pflegte. Hier, wo er mit Freunden in gemütlicher Runde Augenblicke grösster Zufriedenheit erlebt hatte.

Davon zeugte im Moment wenig. Schluckschnabel hatte ausgeschlipft, lag sein Kopf doch in einer Blutlache, dessen Rubinrot ihn als Weinexperte entzückt und von einem guten Jahrgang gezeugt hätte. Schluckschnabel hatte Jahrgang 1956. Im Weinjargon ausgedrückt noch etwas zu jung für den Weinolymp.

Kommissar Kurt Richling stand neben der Leiche, bückte sich etwas angewidert zur Blutlache. «Da hatte ich doch den richtigen Riecher.» Seine Nase sagte ihm unmissverständlich, dass die Blutlache nach Wein roch. Da musste sich ein weisser Schlipfer zum Rotwein gemausert haben. Bestimmt nicht durch ein biblisches Wunder, auch wenn Richling wusste, dass Schluckschnabel kirchlich aktiv war. Damit war die Frage, ob der Winzer auf der Treppe ausgeschlipft und in den Tod gestürzt war, auch schon beantwortet. Wenig später erfuhr der Kommissar von der Gerichtsmedizin, dass sich in der Wunde feinste Glassplitter befunden haben. Am Tatort war aber weder ein kaputtes Weinglas, noch eine zerbrochene Weinflasche aufgefunden worden. Von der Tatwaffe fehlte jede Spur.

Schluckschnabels Frau Sissi sass aufgelöst am Stubentisch. Richling verstand kaum ein Wort, wurde ihr Redefluss doch durch eine Flut von Tränen unterbrochen, die über ihre Wangen kullerten, begleitet von herzzerreissendem Schluchzen. «Mein Herzensschnäbelchen war doch ein aufrichtiger Mensch, der allem und jedem gerecht werden wollte. Wer nur konnte ihm so etwas antun?» Das fragte sich auch Richling. Denn mit der Gerechtigkeit war es so eine Sache. Aus seiner Tätigkeit wusste er nur zu gut, dass Recht und Gerechtigkeit zweierlei paar Schuhe waren.

Richling machte, was in solchen Situationen angesagt war: Einvernahmen und Klinken putzen. Alle Mitarbeitenden im Weinberg des Herrn Schluckschnabel wurden der Reihe nach ausgepresst. Dass dabei kein ungetrübtes Wässerchen entsprang, verstand sich von selbst. Schluckschnabel verlangte seinen Leuten viel ab. Menschen, die es gewohnt waren, hart und lange zu arbeiten. Trotz akribischer Verhöre fehlte Richling nach getaner Arbeit der Durchblick.

Zwar gab es hier und dort mal ein Murren über den Chef, aber alles in allem nicht mehr als das, was man als Menschliches und Allzumenschliches abtun konnte. Es musste sich um eine Tat im Affekt handeln. Aber weshalb? Konsterniert sass Richling zuhause am Küchentisch und las die Riehener Zeitung. Auf der zweiten Seite wurde über ein Thema debattiert, das gerade in aller Munde war: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Während er den Text las, schob sich aus dem Hinterkopf ein Bild vor seine Augen: hatte er den Text heute nicht schon irgendwo aufgeschlagen liegen sehen, versehen mit einer Anzahl von Anmerkungen und rot unterstrichenen Stellen. Er dachte angestrengt nach. Da machte es bei ihm Klick.

Das machte es auch bei Karl Baudenmistel, und zwar zweimal. Kommissar Richling verhaftete den Weinberghelfer auf Abruf. In seinem Abfalleimer fand sich später eine zerbrochene Flasche Schlipfer, ein Weisser. Baudenmistel versuchte noch, seine Tat als Unfall darzustellen. Ihm sei, als er den Weinkeller verlassen wollte, oben an der Treppe die Flasche Schlipfer, die er von Schluckschnabel bekommen habe, aus der Hand geschlipft. Unglücklicherweise habe sie den unten stehenden Winzer am Kopf getroffen. Drei Stunden später sass Baudendistel schweissnass bis auf den letzten Tropfen ausgepresst auf dem Stuhl im Büro des Kommissars. Er hatte ihm reinen Wein eingeschenkt. «Ich habe viele Überstunden im Weinberg gemacht, dafür aber nicht mehr bekommen als alle anderen. Das ist doch eine schreiende Ungerechtigkeit.»

Richling verstand den Mann gut. «Ich hoffe, dass ihnen wenigsten beim nun folgenden Verfahren Gerechtigkeit widerfahren wird. Garantieren kann ich das nicht, denn sie unterliegen dabei nicht den Gesetzen der Gerechtigkeit, sondern der Rechtsprechung.»

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Der Journalist und Redaktor Franz Osswald veröffentlichte vor kurzem seine vierte Erzählung. «Leerschlag» heisst dieser Krimi, der wie üblich in Basel spielt (Verlag Regionalkultur): Der Journalist Oskar Behrens macht sich auf die Suche nach der Tochter von Adi Mettauer.Bei seinen Erkundungen stösst er auf eine alteFamiliengeschichte.

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