Die illegale Pfarrerin
Als Christina Caprez vor sechs Jahren bei ihrer Tante den Stapel von Briefen und Tagebüchern ihrer Grossmutter vom Estrich holte, war ihr nicht bewusst, auf welch historischen Schatz sie gestossen war. «Wow», sagte sie, als sie das viele Material sah, doch die Tragweite und der Reichtum waren erst später erkennbar für sie.
Akribisch sichtete die Soziologin und Journalistin die Unterlagen und gewann Einblick in das Leben einer Theologin, die über die Landesgrenzen für Furore sorgte. Denn ihre Grossmutter Greti Caprez-Roffler war die erste Pfarrerin in einer Epoche, als Männer die Kanzeln beherrschten. Sie war eine illegale Pfarrerin, fügt die Enkelin an, denn das reformierte Furna GR wählte sie gegen alle Widerstände und gegen die Kirchenverfassung zu ihrer Gemeindepfarrerin. Christina Caprez verarbeitete ihre Recherche zu einem viel beachteten Buch und einem Dokumentarfilm. Zurzeit hält die Enkelin in der ganzen Deutschschweiz Lesungen über das Leben ihrer aufmüpfigen Grossmutter.
Mit Recht, denn ihr Leben bietet Stoff für ein spannendes Drehbuch: 1906 in St. Antönien geboren, wächst Greti in einem gutbürgerlichen Haushalt auf. Der Vater ist Pfarrer in Igis, Zizers und zuletzt in Felsberg. Er ist stolz auf seine intelligente Tochter, die das Gymnasium besucht und nach der Matura 1925 an die Universität Zürich geht. Dort studiert sie zunächst Altphilologie, später Theologie. In Graubünden macht sich derweil der Vater dafür stark, dass unverheiratete Frauen ein Pfarramt übernehmen können. Das sorgt für Aufsehen: In der Presse streiten sich Befürworter und Gegner über die Frage, ob Frauen rein physisch den Anforderungen des Pfarramts gewachsen seien, während der evangelische Grosse Rat die nötige Änderung der Kirchenverfassung auf die lange Bank schiebt. 1929 heiratet Greti Roffler den Ingenieur Gian Caprez und wandert mit ihm nach São Paulo aus. Doch auch in Brasilien gibt Greti Caprez ihren Traum vom Pfarramt nicht auf.
Die Wirtschaftskrise und ein militärischer Putsch zwingen sie und später ihren Mann zur Rückkehr. Schwanger überquert sie alleine den Atlantik, schliesst in Zürich das Theologiestudium ab und besteht kurz vor ihrer Niederkunft das Staatsexamen. In ihren Briefen an ihren geliebten Ehekameraden, wie sie ihren Mann nennt, träumt sie davon, wie sie ihren Beruf ausübt. «Zunächst gilt es, die Möglichkeit Frau und Mutter und Beruf zu vereinen, vorzuleben. Dass dazu vor allem ein ganz fabelhafter Mann gehört, daran wird nie gedacht, aber für mich bist du deswegen doch der tragende Grund, ich weiss es doch», schwärmt sie.
Furna beruft sie als Pfarrerin
Nach der Rückkehr aus Brasilien zieht die kleine Familie nach Pontresina. Greti Caprez kämpft mit Artikeln in der Bündner Presse für die Zulassung der Frauen zum Pfarramt. Ihre Hoffnungen scheinen berechtigt, hatte doch die Zürcher Kirche die beiden Theologinnen Rosa Gutknecht und Elise Pfister ordiniert. Doch weiter kamen die Theologinnen nicht. Der Zürcher Regierungsrat verweigerte ihnen die Zulassung zum öffentlichen Amt.
Im abgelegenen Graubünden tickten die Uhren anders: Als das kleine Bergdorf Furna keinen Pfarrer fand, wagte es den Schritt und wählte mit Greti Caprez-Roffler eine junge Frau zur Gemeindepfarrerin. 1931 zog die 25-Jährige mit dem Baby und ihrem Hab und Gut auf Pferdewagen nach Furna. Ihr Mann blieb als Ingenieur in Zürich, sporadisch besuchte er sie an den Wochenenden. Hier im 200-Seelendorf blühte die junge Pfarrerin auf. Sie zeigte den Mädchen, wie sie in Hosen statt Röcken besser Ski fahren konnten, sprach mit den Müttern über Sexualität und Verhütung und machte mit ihrem Kind, das sie auf dem Rücken trug, Hausbesuche.
Der Gemeinde gefiel die neue Pfarrerin mit ihrer direkten und herzlichen Art, während konservative Pfarrherren über diesen Skandal wetterten. Unten in Chur handelte der Bündner Kirchenrat sofort und sperrte der Gemeinde den Zugang zum Kirchenvermögen. Man wollte die aufmüpfigen Bergler in die Schranken weisen und der Pfarrerin den Lohn streichen. Drei Jahre lang hielten Greti Caprez-Roffler und Furna durch, doch dann musste die erste Pfarrerin Europas aufgeben.
Später konnte sich Greti Caprez-Roffler an der Seite ihres Gatten, der inzwischen Theologie studiert hatte, im bündnerischen Rheinwald einbringen. Doch mit der Zeit gab sich die Mutter von sechs Kindern immer weniger kämpferisch. «Es scheint, als habe sie der Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse aufgerieben», sagt Christina Caprez. 1963 erfährt ihre Grossmutter ein Stück Gerechtigkeit. Sie wird ordiniert und kann 1966 offiziellm in Graubünden ein Gemeindepfarramt antreten. Nach 35 Jahren.
Zugang zum Pfarramt verweigert
Seit der Reformation war die Rolle der Frau in der Kirche jene der Pfarrfrau, die in den Kirchgemeinden als stille Helferin, Mutter und Rückhalt ihres Gatten wirkte. Als sich die Theologischen Fakultäten Anfang des 20. Jahrhunderts auch für Studentinnen öffneten, konnten die Theologinnen als Pfarr- oder Gemeindehelferin im Schatten ihrer männlichen Kollegen arbeiten. Der Weg ins Pfarramt war ihnen jedoch verwehrt. Erst seit 1956 können unverheiratete Frauen in einzelnen Kantonen ein Pfarramt übernehmen. Die Pflicht zum Zölibat wurde in den 1970er-Jahren abgeschafft.
Selbst wenn Pfarrhelferinnen oftmals die gleichen Aufgaben wie ihre männlichen Kollegen übernahmen, stolperten sie immer wieder über ihr Geschlecht. So wie Dora Roesler-Riggenberg, die in den 1930er-Jahren in Bern Theologie studierte. Die Konkordatskommission weigerte sich, sie zu ordinieren. So musste sie als Gemeindehelferin arbeiten, die weder taufen noch Abendmahl verteilen konnte. Die Bezeichnung «Gemeindehelfer» störte Dora Roesler-Riggenberg bis zu ihrem Tod: «Diesen Titel erhielt man nach dem Abschluss der sozialen Schule in Zürich.» Sie aber verstand sich als Theologin.
In der Praxis sah es jedoch anders aus: Als Dora Roesler-Riggenberg 1940 nach Biberist wechselte, meinte Pfarrer Steuri, wenn sie nicht alle Aufgaben übernehme, sei sie ihm keine Hilfe. Steuri forderte sie auf, zu taufen, zu beerdigen und mit der Gemeinde das Abendmahl zu feiern. Ein Jahr später wechselte sie nach Olten. «Da komme jetzt eine, die habe Haare auf den Zähnen», warnte der pietistische Pfarrer die Schüler. Doch als sie als «kleine, dünne Frau», so Dora
Roesler-Ringgenberg über sich selbst, das erste Mal das Schulzimmer betrat, verflog die anfängliche Furcht rasch. Unterricht zu erteilen, war Roeslers Leidenschaft. «Wunderbar waren die Kleinen, die waren so herzig», schwärmte sie.
Die Gemeinde und die Kirchenbehörden akzeptierten sie sofort und standen hinter ihr. Durch ihre Arbeit verschaffte sie sich Respekt. Viel Zeit zum Grübeln blieb der Gemeindehelferin nicht: Täglich erteilte sie Unterricht. Samstags schrieb sie bis spät in die Nacht die Predigt. Und sonntags stand sie in der Früh auf, um in Wangen, Hägendorf, Dulliken, Trimbach und Winznau zu predigen. Manchmal fand der Gottesdienst auch auf einem der Jurahänge in einem Bauernhof statt. Das bedeutete stundenlanges Hinauf- und Hinabsteigen. Kam sie nach der Predigt nach Hause, fiel sie todmüde ins Bett.
Der Makel Frau zu sein blieb
Auch wenn Dora Roesler-Ringgenberg alle pfarramtlichen Aufgaben versah, blieb ihr die Ordination, die sie für das Pfarramt brauchte, nach wie vor verwehrt. In Olten sah man dies anders. «Fräulein Ringgenberg» habe studiert wie die anderen Pfarrer und sie arbeite wie diese. Deshalb wolle man sie ordinieren, sobald Solothurn eine Kantonalkirche sei. Doch der Makel als Frau blieb an Dora Roesler-Ringgenberg haften. Als sie nach Dulliken wechselte, gab es Proteste. Die Gemeinde wollte keine Frau, während in den umliegenden Ortschaften Pfarrherren wirkten. Der Kirchenrat blieb hart, sie beorderten Roesler-Ringgenberg nach Dulliken.
Christina Caprez bewundert ihre Grossmutter für ihre Beharrlichkeit, mit der sie sich für die Gleichberechtigung einsetzte. Die Erfahrung, dass sie nicht gleich wie ihre männlichen Kollegen behandelt wurde, machte Greti Caprez-Roffler erst zur Feministin. Als sie mit ihren Anliegen bei den Behörden, den Medien und der Öffentlichkeit auf Widerstand stiess, realisierte sie, wie sexistisch die Gesellschaft war. «Frauen werden nicht als Feministinnen geboren, sondern sie werden dazu, wenn sie erleben, dass sie nicht gleichberechtigt sind.» Ihre Grossmutter sei eine Pionierin gewesen, die das volle Leben anstrebte. Sie beanspruchte für sich, berufstätig und Mutter zu sein sowie eine leidenschaftliche und sexuell erfüllte Beziehung führen zu können. «Für die damalige Zeit war dies unerhört», sagt Christina Caprez. Und auch heute kämpfen die meisten Frauen damit, dies verwirklichen zu können. Das Grundproblem Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, sei noch lange nicht gelöst, sagt Christina Caprez – weder für Frauen noch für Männer.
Tilmann Zuber, Kirchenbote, 27.1.2020
Die illegale Pfarrerin