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Wir leben in einer digital verrückten Welt

von Anna Miller
min
20.06.2022
Wir leben in immer digitaleren Zeiten. Gerade deshalb ist es so wichtig, in eine digitale Balance zu kommen. Und die Digitalisierung als das zu begreifen, was sie ist: allumfassend. Und gestaltbar durch uns alle.

Es ist Ende Januar, als ich mich nach über zehn Jahren dazu entscheide, Whatsapp zu löschen. Dieses kleine Programm, das so leicht zu löschen wäre, ein Klick, eine Bestätigung, weg ist es. Doch so einfach ist es nicht. Weil an diesem Programm so viel hängt. Zuwendung in Form von Sprachnachrichten. Erinnerungen an Beziehungsanfänge in Form von alten Chats. Bilder, GIFs. Doch an diesem Programm hängt noch mehr: Whatsapp ist meine Art und Weise, mich emotional zu regulieren. Wann immer ich mich ein wenig unsicher fühle, sozial gerade ein bisschen einsam, wann immer ich Bestätigung brauche, muss ich bloss kurz schauen gehen und auf eine Antwort warten.

Selbst ich, die sich seit Jahren mit dem Thema «digitale Achtsamkeit» befasst, gerate noch immer und immer wieder in einen digitalen Sog. Finde mich in Momenten wieder, in denen ich darüber nachdenke, wie etwas, was ich real tue, im Internet wirken würde. Ertappe mich dabei, wie ich vor dem ersten Kaffee, ungeduscht, schon Nachrichten auf meinem Smartphone checke. Oder in Momenten der Unsicherheit danach greife, weil das, was mich in der Realität gerade erwartet, unangenehm für mich ist. Sei das, dass ich mit fremden Menschen sprechen oder den Anfang eines Textes finden müsste.

Zurück in die digitale Balance

Dieser Schritt, Whatsapp zu löschen, ist einer der letzten in einer langen Reihe, um eine digitale Balance zu finden. In ein Leben zurückzufinden, das nicht mehr vom Digitalen dominiert und diktiert wird. Viele Menschen, die älter sind als ich, sagen dann oft: «Aber warum denn bloss? Ich verstehe nicht, was ihr alle mit diesen Geräten habt? Ich benutze es bloss für Google Maps, für das Wetter, ab und an Nachrichten von Freunden.» Und dann sagen sie, sie würden ihre Geräte im Flur liegen lassen oder auch mal zu Hause vergessen.

Ihr Glücklichen. Für die dieses Gerät bloss ein Gerät ist. Wie ein Hammer. Oder ein Portemonnaie. Doch diese Gruppe von Menschen, die kaum je in die Nähe einer digitalen Sucht gekommen sind, ist eine immer kleinere. Es gibt sie noch, die Leute, die ganz ruhig bleiben, wenn das Smartphone klingelt, die es auch mal liegen lassen und ohne es in die Ferien fahren. Doch unsere Gesellschaft, unsere Arbeitswelt, der ganze Planet ist im Wandel. Unsere Welt wird immer digitaler, das Metaverse ist schon da, 5G eine Realität, bald kommt das Internet der Dinge um die Ecke, in Japan verlassen viele junge Menschen über Jahre ihre Zimmer nicht mehr, weil sozialer Kontakt immer schwieriger wird in einer Welt, in der wir vermeintlich alles über einen Wisch oder einen Klick lösen können. Wir sind alle angespannter, arbeiten endlose digitale Pendenzenlisten ab, können beim Joggen im Wald telefonieren, übers Internet einen Partner finden.

Dieses Gerät ist für viele von uns nicht bloss ein Gerät, es ist ein Schmelztiegel aller Aufgaben, Erinnerungen, Möglichkeiten – und Verbindungselement. Und das Smartphone liefert uns auch so viele tolle Dinge, so viel Fortschritt, dass wir manchmal gar nicht mehr merken, in welches Kaninchenloch der Ablenkung wir ab und an fallen. Man muss nicht dystopisch veranlagt sein, um zu realisieren, dass unsere vielen Stunden, die die meisten von uns mittlerweile in digitalen Welten verbringen, etwas mit uns machen. Auf individueller Ebene, auf Beziehungsebene, auf Gesellschaftsebene. Der durchschnittliche Nutzer verbringt fünf Jahre seines Lebens auf Social Media. Die amerikanische Psychiaterin Anna Lembke ist Leiterin der Suchtklinik im Silicon Valley und hat zu unserem Dopamin-Rausch ein ganzes Buch geschrieben, es heisst «Die Dopamin Nation – Balance finden im Zeitalter des Vergnügens». Sie sagt, das Smartphone sei zur Injektionsnadel unserer Zeit geworden. Und: Es gibt einen Zusammenhang zwischen unserem verbreiteten Smartphone- und Digitalkonsum und den steigenden Zahlen an Angst- und Depressionskrankheiten im Westen. Ihre These: Wir sind Suchtkranke, die aufgrund einer nie da gewesenen Menge an Dopamin in einem konstanten psychischen Tief sitzen. Und in einer Suchtspirale, aus der wir nur durch Entzug wieder herausfinden.

Der amerikanische Psychologieprofessor Larry Rosen sagt, die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne liegt mittlerweile bei ein bisschen länger als sechs Minuten. Er bestätigt Lembkes These. Und sagt: «Wir müssen zusehen, dass wir wieder ins Gleichgewicht finden. Sonst sind wir nicht bloss unkonzentriert, sondern auch unglücklich.»

Es geht also nicht darum, das Digitale zu verteufeln, sondern uns in immer digitaleren Zeiten die Frage zu stellen, wie wir die Digitalisierung so gestalten wollen, dass sie wieder menschlicher wird – im Guten. Und wie es uns gelingen kann, in einer Welt der kapitalistischen Digitalzwänge wieder ein Stück nachhaltiger, besonnener und selbstermächtigter zu leben. Wie kann ich das Digitale wieder zu etwas machen, was ich für mich nutze, statt mich davon benutzen zu lassen?

Ich habe mit kleinen Schritten angefangen. Das Smartphone aus dem Schlafzimmer verbannen, einen analogen Wecker kaufen. Mit meinem Partner darüber sprechen, wie wir mit dem Digitalen umgehen wollen, das sich manchmal zwischen unsere Beziehung drängt. Das sind kleine Fragen, wie: Haben wir das Gerät auf dem Tisch, wenn wir essen gehen? Nehmen wir den Anruf entgegen, obwohl wir heute freihaben? Schauen wir in den Bildschirm, wenn der andere gerade spricht?

Mit ein bisschen Abstand betrachtet muten diese Fragen lächerlich an. Das wäre doch einfach bloss: Anstand, Respekt, Würde, Gleichberechtigung, Achtsamkeit. Doch wer schon mal während eines Gesprächs den blinkenden Bildschirm bemerkt hat, weiss, wie rasch es passiert, dass wir abgelenkt sind. Und plötzlich ganz woanders. Deshalb habe ich als Erstes die süchtig machenden Apps grösstenteils gelöscht. Mir ein Buch mitgenommen, auf dem Weg zur Arbeit. Oder meine digitale Nutzung von Zeitfressern und Voyeurismus rübergelenkt auf Podcasts mit Tiefe. Ich habe Regeln für mich aufgestellt, wie: kein Smartphone, wenn ich mit jemand anderem bin. Oder aber ich kommuniziere klar und sage: Hey, ich schaue das und das bewusst nach, ich bin gleich wieder voll bei dir.

Sehnsucht nach Zugehörigkeit

Ich musste aber noch mehr tun: Mir beispielsweise eingestehen, dass meine digitale Obsession viel über mein Leben aussagt. Genauer: Mir im Grunde den Spiegel vorhält und mich aufmerksam macht auf Sehnsüchte, die ich habe. Wenn ich auf Facebook schauen gehe, wer mich alles liked, dann spüre ich im Grunde: Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Nach Anerkennung. Nach Wertschätzung. Genau dann fängt die eigentliche Arbeit an. Dann muss ich ehrlich zu mir sein und mir überlegen, wie ich mein Leben online und offline so gestalten kann, dass es mich wirklich erfüllt statt bloss beschäftigt hält. Und diese Frage betrifft uns alle.

Anna Miller, 20.6.2022, Kirchenbote

 

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