«Krise, aber nicht Kirchenspaltung»
Herr Kube, der Nachrichtensender CNN hat die sich abzeichnende Kirchenspaltung der orthodoxen Kirchen mit dem Entscheid des englischen Königs Heinrich VIII. verglichen, der sich 1532 von der katholischen Kirche lossagte. Ist es wirklich so dramatisch?
Der Vergleich hinkt ein wenig. Zum einen ist die Rolle des Ökumenischen Patriarchen innerhalb der Orthodoxie eine andere als diejenige des Papstes in der damaligen lateinischen Christenheit. Der Patriarch von Konstantinopel ist zwar unter den orthodoxen Kirchen der Ranghöchste, aber nur Erster unter Gleichen, er hat keinen Jurisdiktionsprimat über die anderen Kirchen.
Aber alle Medien reden doch von einem Schisma.
Von einer Kirchenspaltung würde ich nicht sprechen. Sicherlich ist die Aufkündigung der eucharistischen Gemeinschaft mit Konstantinopel seitens der russisch-orthodoxen Kirche ein schwerwiegender Schritt und stürzt die Orthodoxie in eine Krise. Umgekehrt hat Konstantinopel die Kirchengemeinschaft mit Moskau jedoch nicht aufgekündigt, und auch die anderen orthodoxen Kirchen haben signalisiert, dass sie weiterhin mit beiden Patriarchen in Gemeinschaft stehen wollen. Ähnlichkeiten der heutigen Situation zu 1532 liegen darin, dass sich in beiden Fällen der Konflikt nicht an dogmatischen, sondern an strukturellen-organisatorischen Fragen entzündet hat. Zudem spielt sich der Konflikt heute wie damals keineswegs nur auf religiöser Ebene ab, sondern kommen auch politische Faktoren hinzu
Das müssen Sie uns erklären.
In vielen Fragen verfolgen der russische Staat und die russisch-orthodoxe Kirche ähnliche Interessen. Dies gilt auch im Hinblick auf die Ukraine, so haben sowohl Patriarch Kirill als auch Präsident Putin mehrfach betont, dass die Ukraine Bestandteil der «russischen Welt» sei und ihr das Recht auf eine eigenständige Entwicklung abgesprochen. Aber auch der ukrainische Präsident Poroschenko betreibt Religionspolitik. Seine aktuell geringe Popularität will er mit einem Erfolg in der Kirchenfrage wettmachen. Deshalb hat er bereits im April den Patriarchen von Konstantinopel um die Unabhängigkeit der ukrainisch-orthodoxen Kirche gebeten. Wir dürfen in diesem Kontext auch nicht vergessen: Im Osten der Ukraine tobt weiterhin ein Krieg, der bei uns kaum noch wahrgenommen wird.
Hat dieser Krieg auch die ukrainischen Gläubigen vom Moskauer Patriarchat entfremdet?
In der Ukraine gibt es heute drei orthodoxe Kirchen. Die ukrainisch-orthodoxe Kirche, die zum Moskauer Patriarchat gehört, aber autonom ist, d. h. ihre inneren Angelegenheiten selbst regeln kann. Daneben existieren zwei orthodoxe Kirchen, die bis vor wenigen Tagen von keiner anderen orthodoxen Kirche anerkannt wurden, aber nun von Konstantinopel wieder in die Kirchengemeinschaft aufgenommen wurden. Seit 2014, mit der Abspaltung der Krim und dem Krieg im Osten des Landes hat das Moskauer Patriarchat unübersehbar an Ansehen und Einfluss in der Ukraine eingebüsst.
Die Annahme ist also berechtigt, dass mit dem Segen von Konstantinopel eine selbstständige ukrainische Kirche grossen Zulauf hat?
Davon ist auszugehen. Für die russisch-orthodoxe Kirche könnte dies einen massiven Verlust bedeuten. Denn in der Ukraine liegen immerhin ein Drittel aller Gemeinden des Moskauer Patriarchats, wichtige Kathedralen und Klöster wie das Höhlenkloster in Kiew. Auf der symbolischen Ebene kommt noch hinzu: Die ganze Ursprungsgeschichte der ostslawischen Orthodoxie ist mit der Kiewer Rus’ verwoben. Hier hat Grossfürst Wladimir der Grosse sich 988 n. Chr. zum Christentum bekannt.
Im Anschluss an die jüngste Entscheidung Konstantinopels ist eine Vereinigung der beiden bisher nicht anerkannten Kirchen geplant. Was sind das für zwei Kirchen?
Es handelt sich um die ukrainisch-autokephale orthodoxe Kirche, die nach dem Ersten Weltkrieg entstand. Von den 1930er Jahren bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion konnte sie jedoch nur in der Emigration existieren. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine von Russland hat sich dann eine weitere ukrainisch-orthodoxe Kirche – Patriarchat von Kiew gebildet. Angeführt wird diese Kirche von Patriarch Filaret, einer schillernden Figur. Er hat sich als vormaliger Metropolit von Kiew 1992 vom Moskauer Patriarchat gelöst. Beide Kirchen haben sich schon lange darum bemüht, vom Patriarchat in Konstantinopel anerkannt zu werden.
Ganz reibungslos geht aber die Vereinigung der beiden Kirchen nicht vor sich?
Nein, erste Anzeichen sprechen dagegen. Dies liegt vor allem an der umstrittenen Rolle von Filaret, an der bereits in der Vergangenheit Vereinigungsbemühungen gescheitert sind. Und völlig offen ist, wie viele Gläubige und Geistliche der ukrainisch-orthodoxen Kirche – Moskauer Patriarchat sich einer eigenständigen ukrainischen Kirche anschliessen.
… also buchstäblich byzantinische Verhältnisse?
Das ist ein im Westen gerne zitiertes Klischee. Aber dass das persönliche Ego einzelner Kirchenführer und Machtfragen auch in den westlichen Grosskirchen eine Rolle spielen, wird dabei schnell vergessen.
Wie begründet eigentlich Konstantinopel seinen Anspruch, über die Unabhängigkeit der ukrainischen Kirche entscheiden zu können?
Es gibt mehrere Argumentationsebenen. Zum einen wird aus Sicht Konstantinopels betont, dass es Aufgabe und Pflicht des Ökumenischen Patriarchats sei, für die Einheit der Orthodoxie zu sorgen. Zum anderen wird historisch argumentiert, dass Konstantinopel eigentlich die Mutterkirche sei und diesen Anspruch trotz der Unterstellung der Ukraine 1686 unter das Patriarchat von Moskau niemals aufgegeben haben. Das Problem ist, dass beide Seiten sehr selektiv mit der Geschichte umgehen und sie zur Untermauerung der eigenen Positionen benutzen.
Im Gegensatz zu vielen Medien im Westen wollen Sie also nicht den Russisch-Orthodoxen die ganze Schuld an dem Konflikt zuschieben?
Es geht nicht darum, Schuldzuweisungen vorzunehmen, oder sich als westlicher Beobachter in einer Schiedsrichterrolle zu sehen. Die orthodoxen Kirchen sind herausgefordert, nach Lösungswegen aus der aktuellen schweren Krise zu suchen und nationalistischen Versuchungen, die auf allen Seiten lauern, zu widerstehen.
Delf Bucher, reformiert.info, 29. Oktober 2018
«Krise, aber nicht Kirchenspaltung»