Am Anfang war das Wort
«Sie werden lachen, die Bibel!», soll der Schriftsteller Bertold Brecht auf die Frage nach dem wichtigsten Buch der Weltliteratur geantwortet haben. Und der Atheist weiter: «Gewisse Bibelworte sind nicht totzukriegen. Sie gehen durch und durch.»
So wie Brecht geht es vielen Zeitgenossen. Egal ob gläubig oder nicht, viele Passagen aus dem Alten und dem Neuen Testament sind ins Blut übergegangen. Biblische Redewendungen beherrschen unseren Wortschatz. Und manche Bibelzitate, sei es als Tauf- oder Konfirmandenspruch, begleiten einen das ganze Leben lang. Zudem lassen sich viele durch ein tägliches Bibelwort ansprechen. Pfarrer Volker Schulz liest jeden Tag die Losungen. Immer vor dem Frühstück, zusammen mit seiner Frau. «Die Vertrautheit mit den biblischen Texten tut gut», erzählt der Pfarrer der Herrnhuter in Basel. Schulz ist Redaktor der Schweizer Losungsausgabe. «Die Losungen helfen im Alltag, den Blick auf Gott und von Gott her zu behalten auf all das, was uns umtreibt», sagt er. Komme er nicht zu seinem täglichen Ritual, dann fehle ihm etwas.
Losungen in 61 Sprachen
Die Losungen sind Bibelverse für jeden Tag. Der Akt der Auswahl hat etwas Mystisches: Einmal im Jahr treffen sich die Brüder der Herrnhuter Gemeine im barocken Sitzungssaal des Vogtshofs zu Herrnhut und ziehen die Losungen. Spannung liegt in der Luft, wenn die Hände in die silberne Schale greifen und für jeden Tag des kommenden Jahres ein Bibelwort aus dem Alten und dem Neuen Testament ziehen.
Die Tradition geht auf Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf zurück, der 1728 die erste Losung aussuchte. Drei Jahre später veröffentlichten die protestantischen Brüder die erste gedruckte Version. Die Losungen erscheinen heute in 61 Sprachen und auch in Brailleschrift. Zahlreiche Prominente, wie Johann Wolfgang von Goethe, Otto von Bismarck oder Ferdinand Graf von Zeppelin liessen sich von den Losungen täglich inspirieren. Für einige wurden sie zum Orakel. Etwa als die Losung einen Tag nach der Währungsreform in der DDR, bei der die D-Mark eingeführt wurde, lautete: «Der Herr macht arm und reich» (1. Samuel 2, 7).
Losungen seien keine Orakel, sagt Volker Schulz. Sie seien vielmehr «Gottes Wort an uns». Die biblischen Texte hätten eine Wahrheit an sich. Faszinierend sei, dass in jedem Losungswort etwas stecke, was uns den Weg weise. Den 64-Jährigen beeindruckt es, wie der Text in der Not tröstet und die Menschen aufrichtet.
Die Herrnhuter Brüdergemeine erreichen zahlreiche Anfragen nach Losungen zu persönlichen Geburtsdaten. Das hat Volker Schulz nie interessiert. Er warnt sogar vor den Erwartungen nach Hellseherei. Bei Abdankungen griff der Pfarrer ab und zu auf Losungen zum Todes- und zum Geburtstag zurück. Es sei manchmal beeindruckend, wie die «biblischen Worte wie ein Generalton über das Leben klingt, wie dicht das Wort am Leben des Verstorbenen war». Das habe aber nichts mit Magie zu tun, sondern damit, dass «das Leben im Angesicht Gottes in einem grösseren Zusammenhang eingebettet» sei. Das erkenne man jedoch erst im Rückblick.
Gelbe Letter auf blauen Plakaten
Während die Herrnhuter im Kleinformat publizieren, setzt die Agentur C auf Grösse. Seit Jahren prägen Bibelzitate in gelben Lettern auf grossen blauen Plakaten die Schweiz. Mal finden sie sich in einer düsteren Unterführung, mal auf dem Parkplatz vor dem Shopping-Center oder an einer lärmigen Strasse. Die Grafik ist minimalistisch, die Aussage umso treffender. Wichtig seien die Verständlichkeit und die Knappheit der Botschaft, sagt Peter Stucki, Vereinspräsident der Kampagne, zu «reformiert.». Deshalb werde ein längerer Vers schon mal um die Hälfte gekürzt. Er sei ein Fan von Jesus, gesteht der 74-Jährige. Das Wort Gottes unter die Leute zu bringen, sei das Ausbringen der Saat; ob und bei wem sie aufgehe, liege in einer anderen Hand. «Wir können Gott nicht verkaufen, er verkauft sich selbst.»
Wichtig sei auch, nicht das Bild eines strafenden Gottes zu vermitteln, der den Ungläubigen mit höllischen Strafen drohe. Stucki ist überzeugt, dass die Plakataktion Hunderte, ja Tausende anspricht. Das zeigten die Rückmeldungen. Etwa von jener Frau, die sich von einem Einkaufszentrum in den Tod stürzen wollte. Da fiel ihr Blick auf ein blaues Plakat mit der Aufschrift: «Ich bin der Herr, dein Arzt.» Die Frau besann sich anders und stieg vom Dach.
Bibel kann aufs Glatteis führen
«Grundsätzlich können uns biblische Texte ansprechen, und wir können in ihnen das Reden Gottes hören», erklärt Benjamin Doberstein. Der Geschäftsführer der Schweizerischen Bibelgesellschaft warnt jedoch, Bibelstellen so zu interpretieren, dass sie uns passen. «Manchmal legen wir Dinge hinein, die uns auch aufs Glatteis führen.» Es sei deshalb eine «unglaubliche Herausforderung, mit Bibeltexten umzugehen».
Benjamin Doberstein empfiehlt, sich vom Bibelwort ermutigen zu lassen, auf dessen Antworten zu hören und auf Gott zu vertrauen. So wie damals Petrus, als Jesus ihn aufforderte, nochmals auf den See zu fahren, um die Netze auszuwerfen. Als erfahrener Fischer wusste der spätere Apostel, dass es sich um diese Tageszeit nicht mehr lohnt. Doch Petrus vertraute Jesus, fuhr hinaus und machte einen reichen Fang.
Verändert sich das Leben, wenn man täglich das Bibelwort liest? «Mit Sicherheit», sagt Doberstein, «denn es stellt sich die Frage: Womit füllen wir unser Leben und Denken?» Der Jurist beobachtet dies bei sich selber. Seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs verfolgt er täglich zwei- bis dreimal die Nachrichten aus dem Kriegsgebiet. Er merkt, wie ihn das bewegt und belastet. «Nachrichten können unser Leben beeinflussen», so Doberstein. Das Gleiche passiere beim Bibellesen. «Wer sich regelmässig damit auseinandersetzt, öffnet Gott mehr Zugänge zu seinem Herzen.» Das tägliche Bibellesen werde uns stärken und achtsamer machen. «Wir werden ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass es in unserem Alltag mehr gibt als Arbeit und Verdienst. Die Momente, in denen wir innehalten und auf das Wort Gottes hören, prägen uns.»
Bibel als Glücksbuch
Der Neutestamentler Daniel Maier ging noch einen Schritt weiter. Er untersuchte anhand der Glücksforschung, ob die Bibel glücklich macht. Sein Ergebnis: Bibellesen macht glücklich, denn die Texte berichten von Hoffnung, Gemeinschaft, Dankbarkeit und Solidarität – alles Faktoren, welche die Zufriedenheit, den Sinn und somit das Glück im Leben steigern. Und die Bibel ruft dazu auf, den Moment zu leben und zu geniessen, so wie es in der Bergpredigt heisst: «Sorget euch nicht um den morgigen Tag, sondern lebt und geniesst das Hier und Jetzt!» Das seien Botschaften, die heute in den Glücksseminaren weitergegeben würden, sagt Daniel Maier. «Für diese Erkenntnisse zahlen die Leute dort Tausende Franken. In der Bibel gibt es sie umsonst.»
Tilmann Zuber, 31.12.22, Kirchenbote
Am Anfang war das Wort