«An Pfingsten ging Gott online»
Menschen aus allen Gegenden des Nahen Ostens waren für Schawuot nach Jerusalem gekommen. Aus Judäa, Samaria, Galiläa – selbst aus dem entfernten Ägypten waren sie angereist. Sie redeten Aramäisch, Persisch und Griechisch, manche von ihnen unterhielten sich in phönizischen Dialekten, andere in anatolischen Sprachen. Ein Chaos aus Sprachen und Kulturen, in dessen Mitte sich der Heilige Geist auszubreiten begann. Und auf einmal zerfielen die Sprachbarrieren zu Staub. Jeder konnte jeden verstehen, das Gefühl einer nie zuvor da gewesenen Gemeinschaft machte sich unter den Feiernden breit.
Kein Verkaufsschlager
Fünfzig Tage nach Ostern feiern wir bis heute das Pfingstfest in Form von Gottesdiensten – und einem freien Montag! Doch während Ostern und Weihnachten auch kommerziellen Erfolg geniessen, «kann man Pfingsten nicht verkaufen», wie die Wintersinger Pfarrerin Sonja Wieland betont. «Pfingsten bleibt wunderbar unangetastet.» Wieland leitet dieses Jahr wieder den Pfingstgottesdienst in Wintersingen und hat sich intensiv mit der Bedeutung des Feiertags auseinandergesetzt. «Die Kraft des Heiligen Geistes ist für mich wie ein spirituelles Internet», sagt sie. Und sie erklärt: «Jesus war drei Jahre mit seinen Jüngerinnen und Jüngern unterwegs, hat geheilt und geliebt und die Botschaft von Gott verbreitet. Das konnte er als einfacher Mensch nur lokal tun. Aber an Pfingsten ging Gott online! Auf einmal spürten die Menschen an allen Orten seine Wirkung.»
Ein Geist des Chaos?
Der Heilige Geist und die Wirkung, die er entfaltet, ist in Sonja Wielands Augen alles andere als lebensferne Esoterik. Er trete als gute Idee im Alltag in Erscheinung oder sei das Gefühl des Sichverstehens nach einer langen Diskussion. «Der Heilige Geist ist eine Kraft, die ihren eigenen Willen hat», meint sie. Immerhin erklärt Jesus auch dem Pharisäer Nikodemus, der Heilige Geist sei wie der Wind: «Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen, weisst aber nicht, woher er kommt und wohin er geht.»
Im Chaos, glaubt Wieland, fühlt sich der Heilige Geist erst so richtig wohl. Wo Menschen diskutieren, wo alte Strukturen zusammenbrechen, wo es auch mal wehtut. «Wenn es von aussen aussieht, als würde gerade alles zugrunde gehen, da ist in Wahrheit oft der Heilige Geist am Werk, und etwas Neues entsteht. Wir dürfen Vertrauen haben.»
Ein Geist der Kreativität!
Sehr deutlich sieht Wieland das am Beispiel der Kirche selbst. Gemeinden fusionieren, Liegenschaften werden verkauft, Pfarrpersonen finden über Quereinstiege in den Beruf. Ein emotionaler Prozess, den sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge beobachtet. Denn beim Alten kann nichts bleiben. Aber gleichzeitig nutzen zum Beispiel Yoga-Gruppen die Kirchgemeindehäuser, eine ganz andere spirituelle Richtung findet Platz in unseren Kirchenräumen.
«Genau das macht die Kraft des Heiligen Geists für mich aus», sagt Wieland. «Wenn wir Gemeinsamkeiten entdecken, anstatt auf Spaltung zu gehen. So vieles, was gerade passiert, ist ein Ausdruck von Kreativität – und die Kreativität kommt von Gott. Das Böse ist nicht kreativ.»
Der Heilige Geist ist etwas, das in uns wohnt, dessen ist sich Sonja Wieland sicher. Er ist wie ein Herzschlag, der immer da ist, ganz egal, ob wir gerade zweifeln oder trauern oder uns freuen. «Das Leben verschlägt uns manchmal die Sprache», sagt sie. «Dann fällt uns das Beten schwer, das Hoffen, selbst das Glauben. Aber durch den Geist, der in uns wach ist, haben wir eine stehende Verbindung zu Gott.»
«An Pfingsten ging Gott online»