«ATD Vierte Welt» bringt die Armut auf die Bühne
Joseph Wresinski kam 1917 in einer kalten Februarnacht im französischen Angers zur Welt. Nicht in einer gemütlichen Stube, sondern in einer Baracke im Lager, wo die Familie während des ersten Weltkriegs interniert war. Der Junge wuchs in bitterer Armut auf und erfuhr die soziale Ausgrenzung am eigenen Leib. Als Alleinerziehende mit vier Kindern erhielt seine Mutter keinerlei Unterstützung. Wresinski berichtet in seinen biografischen Aufzeichnungen vom Alltag im Slum, von den Entbehrungen, der Gewalt und der ständigen Angst vor der Polizei.
Den Kampf gegen die Armut machte Wresinski zu seiner Lebensaufgabe. 1946 liess er sich zum Priester weihen. Doch er wollte das Elend nicht von der Kanzel herab bekämpfen, sondern gemeinsam mit den Betroffenen. Als Seelsorger «Père Joseph» lebte er ab 1956 zehn Jahre lang im Obdachlosenlager von Noisy-le-Grand bei Paris mit 250 Familien zusammen. «Das Elend ist nicht unabänderlich. Es wird von Menschen verursacht, und die Menschen können es auch überwinden», lautete sein Credo. Auf seine Initiative geht auch der «Internationale Tag für die Beseitigung der Armut» zurück, zu dem die Uno 1992 den 17. Oktober erklärte.
Für Selbstbestimmung
Joseph Wresinski ging es um Selbstbestimmung. Er gründete die weltweite Bewegung «ATD Vierte Welt». «ATD» bedeutet «Aide à toute détresse», «Hilfe in aller Not». Das Ziel: Die Armutsbetroffenen beteiligen sich und vertreten ihre Interessen. Seit 1967 setzt sich «ATD Vierte Welt» auch in der Schweiz für die Rechte der Armen ein. Gemäss der Menschenrechtsorganisation leben sieben Prozent der Schweizer Bevölkerung in Armut. Das sind rund 570 000 Personen.
Das doppelte Jubiläum des hundertsten Geburtstags von Joseph Wresinski und des fünfzigsten von ATD Schweiz feiert die Bewegung jetzt mit einem Musiktheater. Für das Projekt engagieren sich Profis, Freiwillige und Armutsbetroffene gemeinsam. «Verborgene Farben» erzählt die Geschichte eines Kindes, das wie der 1988 verstorbene Joseph Wresinski in Armut aufwächst. Adrien kämpft gegen Ungerechtigkeiten und Vorurteile, erlebt aber auch Mut, Solidarität und Glück. Das Stück soll ein «grosses, poesievolles Fest werden», sagt der künstlerische Leiter Jean-Marie Curti.
Sprachgrenzen überwinden
«Verborgene Farben» tourt mit 17 Aufführungen durch die Romandie, die Deutschschweiz, das Tessin und Frankreich. Pantomime, Musik und Lieder in den vier Landessprachen und auf Englisch sorgen dafür, dass alle die Geschichte verstehen. Neben den zwei Mimen und vier Musikern treten an jedem Ort ein regionaler Chor und lokale Statisten auf.
Seit einem Jahr plant und koordiniert ein Organisationskomitee die Grossproduktion. Christine Lindt vom Leitungsteam ATD Basel vertritt die Deutschschweiz. In Basel entstehen seit Anfang Jahr die rund hundert Kostüme für das ganze Stück, fünf verschiedene, für jedes Lied ein anderes. Das Projekt sei eine riesige Herausforderung, sagt Christine Lindt. Doch sie freue sich über die Ressourcen und Fähigkeiten, die bei den Beteiligten zum Vorschein kommen.
Freundschaften vertiefen
Rösli Wirz sagte spontan zu, als Christine Lindt sie fragte, ob sie mithelfen wolle. Sie kennt die Armut aus eigener Erfahrung. Sie schneidert Kostüme und singt im Chor. Sie sei «so hineingeworfen worden», aber mittlerweile mit Begeisterung dabei, erzählt Wirz. Das Singen in einer Fremdsprache habe ihr Mühe bereitet, und sie habe zu Beginn viele Fehler gemacht. Doch «gerade die schwierigen Momente lassen tiefe Kameradschaft entstehen», so Wirz. Der Chor müsse nicht perfekt tönen, meint Claude Hodel vom Leitungsteam ATD Basel. Es gehe um das Gemeinschaftserlebnis und Emotionen – bei den Beteiligten auf der Bühne und beim Publikum.
Karin Müller, Kirchenbote, 24. August 2017
Aufführungen:
Freitag, 22. September, 20 Uhr, Olten, Schützi
Samstag, 23. September, 20 Uhr, Liestal, Pfarreisaal Bruder Klaus
Sonntag, 24. September, 17 Uhr, Basel, Kulturzentrum Union
Freitag, 20. Oktober, 19.30 Uhr, Luzern, Lukassaal
Weitere Aufführungen und Informationen: www.vierte-welt.ch/verborgenefarben
«ATD Vierte Welt» bringt die Armut auf die Bühne