Baselland, Basel-Stadt, Luzern, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Uri, Zug

«Auf einmal gehört man nicht mehr dazu»

min
08.12.2016
Erwerblose, die über 50 sind, bleiben im Schnitt länger ohne neue Anstellung als jüngere Stellensuchende; ihre berufliche Erfahrung scheint keinen Wert mehr zu haben. Dieses Thema werde in der Gesellschaft kaum wahrgenommen, sagt die kirchliche Mitarbeiterin Britta Hildebrandt aus Köniz bei Bern. Eine Fotoausstellung will sensibilisieren.

Auf dem Bild ist ein Gesellschaftsspiel zu sehen, ein Brett mit den klassischen roten, blauen und gelben Spielfiguren. Dieses Bild hat für die Frau, die es aufgenommen hat, symbolische Bedeutung. Sie steckt seit drei Jahren nämlich in einem «Gesellschaftsspiel» der anderen Art: Es ist real, beklemmend, aufreibend und oft demütigend.

Die Frau – sie möchte anonym bleiben – ist 57-jährig und stellenlos. Damit gehört sie einer wachsenden Bevölkerungsgruppe an: Laut Statistik waren im Jahr 2003 schweizweit noch 15 Prozent der Stellenlosen älter als 50-jährig, aktuell sind es bereits 25 Prozent. Stellensuchende dieser Altersgruppe gelten auf dem Arbeitsmarkt als schwer zu vermitteln und bleiben im Schnitt länger ohne Job als jüngere Mitbewerber.

Von Pontius zu Pilatus
«Ich habe den ganzen Reigen mitgemacht, Entlassung aus strukturellen Gründen, Bezug von Versicherungsgeldern, Anmeldung bei der regionalen Arbeitsvermittlung, eine Flut von vergeblichen Bewerbungsschreiben, etliche ebenfalls erfolglose Bewerbungsgespräche, Praktika, eine Weiterbildung, Aufzehrung des persönlichen Ersparten und schliesslich die Abhängigkeit von Sozialgeldern.» Dies sagt die 57-Jährige als gut ausgebildete Frau, die vordem in einer sozialen Institution tätig war und sich plötzlich, auf dem Höhepunkt ihrer beruflichen Erfahrung und Schaffenskraft, am anderen Ende wiederfand – als «Sozialfall» und auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gefragt. «Um wenigstens einer Tätigkeit nachzugehen, kann man natürlich Freiwilligenarbeit leisten, aber dabei bleiben die Rechnungen unbezahlt.»

Ihr symbolträchtiges Foto mit den Spielfiguren ist im Rahmen eines Projekts entstanden, das die reformierten Landeskirchen Bern-Jura-Solothurn in Zusammenarbeit mit der Fotografin Julia Weber seit einigen Jahren durchführt. Das Angebot richtet sich an Erwerbslose, die sich fotografierend mit ihrer Situation und ihrer Umwelt auseinandersetzen. An der diesjährigen Austragung haben auch mehrere erwerbslose über 50-jährige Frauen aus Köniz teilgenommen; unter dem Titel «50plus: Ge-schafft!?» stellen sie ihre Bilder derzeit aus.

«Die Kirche muss hinschauen»
Initiantin der Ausstellung ist Britta Hildebrandt, die in der Kirchgemeinde Köniz in der Sozialdiakonie arbeitet. Das Thema gehe alle wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Akteure etwas an, auch die Kirche, hält sie fest. «Die Kirche kann mit Aktionen, Podien und anderen Veranstaltungen sensibilisieren, und sie muss die Politik auffordern, nach Lösungen zu suchen.» Übrigens werde das Thema landesweit nur marginal beachtet; die nationale Konferenz gegen Armut 2016 zum Beispiel habe es nicht aufgegriffen.

Hildebrandt setzt sich intensiv mit der Problematik auseinander, hat auch eine Selbsthilfegruppe initiiert und weiss, welchen psychischen, sozialen und ökonomischen Rattenschwanz ein länger andauernder Stellenverlust für Leute in der Altersgruppe 50+ nach sich zieht. «Auf einmal gehört man nicht mehr dazu, glaubt, sich vor Freunden rechtfertigen oder sogar absondern zu müssen, kann sich auch kaum mehr etwas leisten, muss jeden Rappen umwenden.» Zudem habe es etwas Demütigendes, sich als Mensch mit Berufs- und Lebenserfahrung auf der Stellensuche vor zuweilen jungen und wenig erfahrenen Chefs zu präsentieren. Und immer wieder fadenscheinig begründete Absagen zu erhalten, frustriere.

Besonders betroffen sind gerade auch Frauen. In der Lebensmitte kommt es zwischen zwei Lebenspartnern heute oftmals zu Trennungen; die Frau, die sich bisher schwergewichtig um die Familie gekümmert hat, steht plötzlich vor der Notwendigkeit des vollzeitlichen Gelderwerbs und muss eine entsprechende Anstellung finden.

Erfahrung hat ihren Preis
«Über die Altersgruppe 50+ kursieren am Arbeitsmarkt allerlei Mythen», sagt Britta Hildebrandt. Diese Leute gälten als demotiviert, unflexibel, technisch im Rückstand und für Neues kaum zu begeistern. «Das stimmt aber in keiner Weise; sie sind in der Regel hochgradig loyal, qualitätsbewusst, weiterbildungsfreudig und berufserfahren.» Einziges Problem: Sie kosten den Arbeitgeber mehr wegen höherer Löhne und höherer Pensionskassenbeiträge. Hildebrandt relativiert aber auch dieses Argument: «Das ist doch widersprüchlich – als Arbeitgeber sucht man möglichst gute Leute mit Erfahrung, ist dann aber nicht bereit, für ebendiese Erfahrung auch zu zahlen.»

Aussagen, die die 57-jährige Teilnehmerin am kirchlichen Fotoprojekt nur bestätigen kann. Sie habe zum Glück ein funktionierendes soziales Netz und sei eine Kämpfernatur, sonst wäre sie vermutlich aus der Spur geraten, sagt sie. Im Übrigen habe sich ihr jetzt eine kleine Tür geöffnet: Sie habe die Chance erhalten, ein Praktikum im Seniorenbereich anzufangen – «ein Praktikum mit Perspektive». Sie gebe die Hoffnung nicht auf.

Hans Herrmann / reformiert.info / 8. Dezember 2016

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Unsere Empfehlungen

Die Teuerung trifft die Ärmsten

Die Teuerung trifft die Ärmsten

Die Teuerung der vergangenen Monate trifft insbesondere die weniger gut Verdienenden. Hilfsorganisationen wie das «Tischlein Deck dich» in der Offenen Kirche Elisabethen in Basel verzeichnen eine so hohe Nachfrage, dass Grundnahrungsmittel fehlen. Nun springen eine Stiftung und eine Firma ein.
Ein Prozess mit Signalwirkung (1)

Ein Prozess mit Signalwirkung (1)

Die Anwältin Nina Burri ist Fachperson für Wirtschaft und Menschenrechte beim Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz. Sie verfolgt den Prozess, den bedrohte Fischer gegen Holcim anstreben.
Teuerung trifft die Ärmsten

Teuerung trifft die Ärmsten

Die Teuerung der vergangenen Monate trifft insbesondere die weniger gut Verdienenden. Hilfsorganisationen wie das «Tischlein Deck dich» in der Offenen Kirche Elisabethen in Basel verzeichnen eine so hohe Nachfrage, dass Grundnahrungsmittel fehlen. Nun springen eine Stiftung und eine Firma ein.