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Aufgehen im All

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01.01.2016
In seinen Werken wagte der Maler Ferdinand Holder einen «Blick ins Unendliche». Es scheint, als würde man am Rande der Erde stehen.

Auf einem Spaziergang am Genfersee, den Hodler im Jahr 1917 mit einem Freund unternimmt, anvertraut er diesem: «Auch andere Landschaften als bisher werde ich malen, oder doch die bisherigen anders. Sehen Sie, wie da drüben alles in Linien und Raum aufgeht? Ist Ihnen nicht, als ob Sie am Rand der Erde stünden und frei mit dem All verkehrten? Solches werde ich fortan malen!»
In den letzten Monaten seines Lebens, zwischen Januar und Mai 1918, arbeitete Hodler an einer Serie von Landschaftsbildern, die alle den gleichen Ausschnitt zeigen, den Blick von seiner Wohnung am Quai du Mont-Blanc in Genf über den See auf die Bergketten des Salève, Môle und Mont-Blanc. Im Bild «Genfersee mit Mont-Blanc am frühen Morgen», das dem Kunsthaus Zürich gehört, kündigt sich die Sonne flammend hinter den Bergen an und färbt den Morgenhimmel orange und rosa. Der Horizont der blauen Berge hebt sich im Gegenlicht scharf ab und bildet ein Profil, bei dem man sich an dasjenige von Valentine Godé-Darel erinnert fühlt, die der Künstler auf ihrem Totenbett gemalt hat. Die horizontale Staffelung von schmalem Uferstreifen im Vordergrund, See, Bergen und Himmel verleiht dem Bild eine Ruhe und Monumentalität.

Landschaftsbilder Gottesbilder
Hodlers Anliegen ist es, mit seiner Kunst die Idee der Einheit, die der Natur innewohnt, sichtbar zu machen. Dabei handelt es sich um eine Einheit, an der Erde und Himmel gleichermassen teilhaben. In unserem Bild kommt dies darin zum Ausdruck, dass die Farben des Himmels sich im See spiegeln, was man übertragen als Spiegelung des Jenseits im Diesseits deuten kann. Hodlers Idee der Einheit entspricht seiner Vorstellung von Gott. In diesem Sinne kann man seine Landschaftsbilder auch als Gottesbilder lesen, womit er in der Tradition von Romantikern wie Caspar David Friedrich oder Philipp Otto Runge steht, die ihre Naturbilder als Zeugnisse einer Ahnung von Gott beschreiben. Die Einheit von Himmel und Erde bringt Hodler oft auch auf die Weise zum Ausdruck, dass er seine Bergbilder oder Seelandschaften mit einem Wolkenkranz einfasst, der diesen gleichsam einen Heiligenschein verleiht.
Das eigentliche Lebensthema Hod­lers, das sich durch sein ganzes Werk zieht, ist die Auseinandersetzung mit dem Unendlichen, womit er ebenfalls, wie mit dem Begriff der Einheit, letztlich Gott meint. Dieses Leitthema spiegelt sich in Bildtiteln wie «Aufgehen im All» oder «Communion avec linfini».
Noch in seinen letzten Jahren arbeitete er im Auftrag der Zürcher Kunstgesellschaft an einem grossformatigen Figurenbild für das Treppenhaus im Kunsthaus Zürich, das den Titel «Blick in die Unendlichkeit» trägt. In Verbindung mit dem Ort liegt es nahe, das Bild als Metapher für die Kunst zu deuten. Nach Hodlers Auffassung ist es die Aufgabe der Kunst, Blicke ins Unendliche zu ermöglichen, die Augen für das Unendliche zu öffnen.
Bilder der der Welt innewohnenden Einheit, Bilder des Unendlichen, Gottesbilder: In den späten Genferseelandschaften setzt sich Hodler noch mit einem weiteren Thema auseinander: dem Tod. Der Künstler hat diese Bilder im Bewusstsein eines möglichen nahen Todes gemalt. «Am Rande der Erde stehen und frei mit dem All verkehren»: mit diesen Worten deutet er sein Spätwerk als Vorbereitung auf das Sterben. Seinem Freund Cuno Amiet schrieb er im Jahr vor seinem Tod: «Je mehr ich selbst der grossen Einheit mich nähere, desto grösser und einfacher soll meine Kunst werden.»

Johannes Stückelberger, Kunsthistoriker an der Universität Bern und Basel

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