Beten und Schweigen
Frau Wehrli, provokativ gefragt: Was bringt Beten und Schweigen?
Unser Motto ist es, für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt zu beten. Wenn man die Welt anschaut, könnte das einem schon pessimistisch stimmen und die Frage aufwerfen, ob wir tatsächlich weitergekommen sind. Aber Erfolg ist nun mal kein Name Gottes. Als Kirchenleute wollen wir an der Verheissung vom Reich Gottes festhalten. «Dein Reich komme» bedeutet, dass Gott eine andere Welt will und für diese leisten wir einen Beitrag, so klein er auch sein mag.
Angesichts der Probleme der Welt: verspüren Sie keine Resignation?
Im Schweigen und Beten bringen wir unsere Ohnmacht vor Gott. Wir hoffen darauf, dass wir durch die Einkehr verwandelt wieder rausgehen. Albert Schweitzer hat gesagt: Beten ändert nicht die Welt, aber beten verändert Menschen und Menschen verändern die Welt. Das ist unsere Motivation.
Sie beten explizit für die Opfer des Neoliberalismus. Ist die ökumenische Gebetswache eine Protestbewegung zum WEF?
Nein. Das WEF ist ein Konzentrat von den Problemen, aber auch den Chancen der Welt. Es werden nicht nur Deals abgeschlossen, sondern die Teilnehmer probieren ernsthaft, Lösungen zu finden. Wir verstehen uns nicht als Protestbewegung, sondern betonen einen Kontrapunkt zu Wirtschaft und Wachstum. Gott hat uns ein Leben in Fülle verheissen, was jedoch nicht bedeutet, dass wir in der westlichen Welt verschwenderisch leben und andere ausbeuten sollen.
Am diesjährigen WEF wird auch der ultrarechte brasilianische Präsident Jair Bolsonaro teilnehmen, US-Präsident Donald Trump war letztes Jahr mit dabei. Schliessen Sie auch diese streitbaren Machthaber in ihre Gebete ein?
Auf jeden Fall. Nach wie vor verstehen wir uns alle als Teil der Probleme und hoffentlich auch der Lösungen. Dem WEF-Gründer Klaus Schwab billigen wir wie anderen Wirtschaftskapitänen und Politikern zu, dass er beabsichtigt, die Probleme der Welt anzugehen. Das Motto des diesjährigen WEF ist die Globalisierung und Digitalisierung – diese bringt Gewinner hervor, fordert aber durch den Verlust von Arbeitsplätzen auch viele Opfer. Ihnen wollen wir uns in den Gebeten intensiv zuwenden, denn das ist die Aufgabe der Kirche: Sich der Verlierer anzunehmen.
Findet die Gebetswache eigentlich Anklang? Bei winterlichen Temperaturen drei Stunden in einer Kirche ausharren …
Es sind jeweils ein bis drei Dutzend Christen aus Landeskirchen und Freikirchen, die sich am Abend von 18 bis 21 Uhr in der reformierten Kirche St. Johann einfinden. Es zählt aber nicht der Anlass allein: Die Kirche ist während des WEF den ganzen Tag offen. An einem Lichterbaum kann man persönliche Anliegen anbringen. Neben Einheimischen kommen auch viele Besucher aus dem Umfeld des WEF in die Kirche, die sie als Ort der Ruhe und der Besinnung schätzen.
Was sind Ihre ganz persönlichen Hoffnungen für die Welt?
Ich wünsche mir, dass wir uns nicht entmutigen lassen. Dass wir uns – gerade im Zeitalter der Digitalisierung – persönlich um einen mitmenschlichen Umgang bemühen. Und die Fähigkeit bewahren, in die Haut des anderen zu schlüpfen.
Interview: Sandra Hohendahl-Tesch, reformiert.info, 11. Januar 2019
Beten und Schweigen