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Theologie

Boldern: Wo sich die Avantgarde der Kirche traf

von Sandra Hohendahl-Tesch / reformiert.info
min
06.09.2023
Mit dem Namen Boldern sind viele Emotionen verbunden. Anlässlich des 75-jährigen Jubiläums hat Filmemacher Stefan Muggli eine Dokumentation über das evangelische Bildungshaus gedreht.

Es war die Trauer in den Gesichtern seiner Mitmenschen, die Hans Jakob Rinderknecht am Ende des Zweiten Weltkriegs tief bewegte. In einem Tram fasste der damalige Schulleiter des evangelischen Seminars Unterstrass den Entschluss, einen Ort der Orientierung und Hoffnung neben der Kirche zu schaffen. So eröffnete er im Januar 1948 mit zwei Pfarrern und einem Vereinsvorstand die Heimstätte Boldern oberhalb von Männedorf. Bald wurden hier Tagungen zu verschiedenen Themen, darunter auch Homosexualität und Feminismus, abgehalten. Boldern war ein Raum für Themen geworden, die in der Kirche wenig Platz fanden oder verdrängt wurden.

Die bewegte Geschichte von Boldern, die mit der oben beschriebenen Legende im Tram ihren Anfang nahm, ist nun in einem Dokumentarfilm festgehalten. Entstanden ist dieser anlässlich des 75-jährigen Boldern-Jubiläums, das am Samstag, 2. September, mit einem grossen Fest vor Ort begangen wurde. An der Filmpremiere, die geschätzt gegen 200 Leute anlockte, war auch Regisseur Stefan Muggli anwesend. Für SRF drehte er schon mehrere Dokumentarfilme und hat sich so in der Szene einen Namen gemacht.

Inspiration durch eine Linde

In einem Gespräch mit «reformiert.» erzählt er, wie er dazu kam, über Boldern einen Film zu drehen. Er habe mit seiner Familie unterhalb des Hotels gewohnt, sagt Muggli, allerdings kannte er es nur wegen dem Restaurant und der schönen Aussicht. Dem freischaffenden Filmemacher kam die Idee, einen Imagefilm über das Seminarhotel zu drehen. Beim Stiftungsrat rannte er offene Türen ein. Rasch wurde indes klar, dass das Format des Imagefilms dem Ort nicht gerecht werden konnte. Vielmehr sollte es ein Dokumentarfilm werden, der die lebendige Geschichte von Boldern für die Nachtwelt festhält. «Es geht um die Menschen, die diesen Ort über all die Jahre geprägt haben.» Inspiriert dazu habe ihn die grosse Linde auf der Terrasse. «Wenn man unter ihr sitzt, wird einem klar, dass sie vieles erlebt hat und viele Geschichten zu erzählen hat.»

Eindrücklich erzählt der einstündige Film, wie sich Boldern trotz vieler Kritiken und Anfeindungen, namentlich von bürgerlicher Seite, zu einem wichtigen Ort für linke gesellschaftspolitische Debatten und den feministisch-theologischen Aufbruch in der Schweiz entwickelte. Eine der Protagonistinnen im Film ist die Theologin Gina Schibler, die sich während Jahrzehnte für Frauenrechte einsetzte. Sie berichtet von ihren Begegnungen Frauen aus der ganzen Welt, die sich auf Boldern Gehör verschafft haben.

 

 

Für seine Recherchen stieg Muggli etliche Male ins Archiv. Zusammen mit Stifungspräsidentin Madeleine Strub-Jaccoud und ihrem Mann Hans Strub, die das Projekt mit Verve unterstützt haben, durchstöberte er dieses tagelang, ordnete unzählige Tagungsberichte, wies diese dem Jahr und den Personen zu. Gemeinsam entschieden sie sich für eine Auswahl an Protagonisten, die im Film vorkommen sollen. «Es gibt natürlich noch viele andere Leute, die Boldern ein Gesicht gaben. Wir beschränkten uns auf die wichtigsten aus der lokalen Umgebung», sagt Muggli.

Dazu gehört zweifelsohne auch der Theologe Patrice de Mestral und dessen Ehefrau Marianne de Mestral, die sich beide jahrzehntelang für die Anliegen der Menschen, die sich auf Boldern begegneten, engagierten. «Wir verstanden uns als Avantgarde der Kirche, wir gaben jenen eine Stimme, die sonst nicht gehört wurden», sagt der 90-jährige Pionier in einer durchaus rührenden Szene. Dies waren zum Beispiel Gastarbeiter aus Italien, «die man holte, um zu arbeiten, sie aber nicht als Mitbürgerinnen und -bürger wollte.»

Abgesichert in die Zukunft

Mit der Zeit verlor Boldern an Bedeutung, die Gebäude wurden vernachlässigt, und immer weniger Menschen besuchten das Begegnungszentrum. 2011 strich die Landeskirche ihre Subventionen, was zu finanziellen Schwierigkeiten führte. Es gab Uneinigkeiten über die Zukunft von Boldern, und der Vorstand trat zurück. Madeleine Strub-Jaccoud übernahm das Präsidium des Trägervereins und verhinderte Pläne, aus Boldern nur noch einen Hotelbetrieb zu machen. Durch geschickte Finanzplanung und den Verkauf eines Gebäudes in Zürich konnte Boldern Schulden abbauen und neue Mittel beschaffen. Geplant ist der Bau von 60 Wohnungen auf der Landreserve unter dem Seminarhotel, um die Zukunft finanziell abzusichern.

Mugglis Film macht deutlich: Boldern hat sich im Laufe der Zeit verändert, aber es bleibt ein Ort des Austauschs und der Begegnung. Ihn habe beeindruckt, wie sehr sich die Menschen, die er während der zweijährigen Entstehungszeit des Films interviewt habe, mit diesem Ort identifizierten. «Sie haben sich mit viel Leidenschaft und Passion für die gesellschaftlichen Themen eingesetzt und etwas angestossen, für das die Kirche dankbar sein kann.»

 

Stefan Muggli

Stefan Muggli

Als Filmregisseur und -produzent arbeitete Muggli über 15 Jahre als Autor von Bewegtbildern für Kino, Fernsehen und Web. Innerhalb seiner Filmproduktionsfirma «Instantview GmbH» sind dabei zahlreiche Unternehmens-, Lehr- und Werbefilme entstanden; wie auch abendfüllende Dokumentarfilme, die den Weg auf die Leinwand oder ins TV-Programm fanden. Inhaltlich sind es immer die Menschen mit ihren einzigartigen Lebensgeschichten, die dem 39-Jährigen am Herzen liegen.

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