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Kommunikation

Briefe schreiben: «Das Entscheidende ist nicht, ob digital oder analog»

von Vera Rüttimann
min
12.09.2024
Wie wird sich das Briefeschreiben durch Whatsapp, künstliche Intelligenz & Co. verändern? Antworten gibt Boris Previšić, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaften.

Herr Previšić, was fasziniert Sie an der Kultur des Briefeschreibens?

An den Briefen interessiert mich vor allem die literarische Form. Was man oft vergisst: Briefe aus früheren Zeiten waren keine private Angelegenheit. Oft, und das sieht man bereits schon bei den Paulusbriefen, richteten sie sich an eine grössere Öffentlichkeit. Im biblischen Kontext konnte das eine Gemeinde sein. Sie konnten öffentliche Bekenntnisse sein, wie im Falle von Augustinus oder Rousseau. Bis hin zum Briefroman des 18. Jahrhunderts. Ich denke dabei an Goethes Werther, der seinem Freund sein Liebesleid beichtet, aber keine Antwort erhält.

Ist es diese grosse Brandbreite an Briefen, die Sie so fasziniert?

Ja, Briefe faszinieren mich als Kommunikationsmodell. Mich erstaunt immer wieder die grosse Brandbreite an unterschiedlichen Briefformen und welche Hintergedanken dahinterstehen. Goethe, der an Charlotte von Stein schreibt, weiss schon beim Schreiben, dass seine Briefe später für die Öffentlichkeit bestimmt sind.

Wenn mir etwas wichtig ist und ich weiss, die einzige Vermittlungsform ist jetzt das SMS, dann formuliere ich genau so sorgfältig.

Gibt es heute diese Form von Briefen noch?

Das Genre des öffentlichen oder des offenen Briefes gibt es zwar noch, aber nicht mehr so verbreitet wie früher. Hier beobachten wir eine Verschiebung in Zeitungsrubriken wie «Meinung», «Standpunkt» oder «Forum». Wie schon bei Goethe geht es auch letztlich um die verschiedensten Empfänger – den konkreten individuellen Leser und die kollektive Leserschaft.

Verändert die neue Technik auch das Denken und Fühlen der Leute, wenn man heute nicht eine Woche auf eine Antwort warten muss?

Es spielt vermutlich keine grosse Rolle, ob ich einen Brief von Hand niederschreibe oder ob ich ihn als SMS eintippe. Wenn mir etwas wichtig ist und ich weiss, die einzige Vermittlungsform ist jetzt das SMS, dann formuliere ich genau so sorgfältig. Vor ein paar Jahren wurde es als Sakrileg empfunden, einer Person per SMS beim Verlust eines Angehörigen zu kondolieren. Und inzwischen ist es gang und gäbe.

 

Boris Previšić ist Professor für Literatur- und
Kulturwissenschaften an der Universität Luzern.

 

Geht mit dieser Art Kommunikation nicht ein Stück Kultur verloren?

Ich möchte davon warnen, zu viel Persönliches in die Briefform hineinzuprojizieren. Es ist ein Irrtum, wenn man glaubt, sie seien früher viel persönlicher gewesen. Im Kloster Mustair habe ich unlängst Briefwechsel zwischen benediktinischen Klosternonnen und ihren Verwandten durchgesehen. In einem geschlossenen Kloster lebend, können sie nur mit Briefen nach aussen kommunizieren. Ein persönliches Gespräch ist nicht möglich. Und dennoch bleibt der Inhalt meist völlig formalisiert. Man spricht über das aktuelle Wetter und über banale Alltagsdinge. Solche Briefe können genauso oberflächlich sein wie eine Whatsapp- oder eine SMS-Nachricht.

Es ist ein Klarwerden, während man einen Brief schreibt. Quasi ein kathartischer Akt.

Was ist für Sie das Schönste am Briefeschreiben?

In dem Moment, in dem man etwas ausformuliert, hat man das Gefühl, dass man etwas abgegeben hat. Es ist ein Klarwerden, während man einen Brief schreibt. Quasi ein kathartischer Akt. Der Brief als Dokumentationsform der eigenen Selbstfindung oder in der Beziehung zu jemandem. Manchmal ist es auch ein Akt des Loslassens. Um nochmals auf unser Beispiel zurückzukommen: In dem Moment, in dem Goethe seine grösste Liebe zu Charlotte von Stein formulierte, nahm er von der früheren innigen Beziehung Abschied.

Für viel Geld wurden unlängst Liebesbriefe von Napoleon versteigert. Wird es in 200 Jahren solche Briefe aus unserer Zeit geben? 

Es wird immer ein Unterschied sein, ob ich eine schnelle Voice-Nachricht hinterlasse oder ob ich etwas selber sorgfältig ausformuliere. Das Entscheidende ist also nicht, ob digital oder analog, sondern visuell oder akustisch.

Je mehr unsere Welt von künstlicher Intelligenz durchdrungen wird, umso mehr muss ich das Private-Individuelle manifestieren.

Jugendliche lassen heute Entschuldigungsbriefe an die Eltern oder Liebesbriefe über KI (ChatGPT) schreiben. Was halten Sie davon?

Es handelt sich zunächst nur um einen Vorschlag, den die KI macht. Man muss sich aber immer fragen: Aus welchen Quellen speist sich eigentlich der vorgeschlagene Text, und was mache ich damit? Als Sender eines Briefes ist man darauf angewiesen, die persönliche Note zu unterstreichen. Die Formalisierung der Briefe durch die KI wird in nächster Zeit sicherlich noch zunehmen. Umso mehr kann uns das Persönliche und Intime in der eigenständigen Formulierung zum Ausdruck gebracht werden. Ob das dann die KI in Zukunft auch kann, werden wir sehen. Aber sie wird immer meinen Input brauchen.

Kann die KI also einen Kreativitätsschub beim Briefeschreiben bringen?

Das liegt auf der Hand. Je mehr unsere Welt von künstlicher Intelligenz durchdrungen wird, umso mehr muss ich das Private-Individuelle manifestieren. Darin liegt eine Dialektik. Um die Zukunft des persönlichen Briefes mit einer eigenständigen und vielleicht auch kreativen Note bange ich deshalb nicht.

 

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