«Christlicher Nationalismus missbraucht Religion zum Zweck»
Sie sind ein evangelikaler Pastor und dennoch hebt sich Ihre Kirche von vielen anderen Kirchen der konservativen Southern Baptist Convention ab. Sie selbst sprechen sich gegen christlichen Nationalismus aus. Warum?
Ich wurde am traditionsreichen Fuller Seminary ausgebildet und gründete 1985 die Northwood Church als Gemeinde der konservativen Southern Baptist Convention. Damals verstand ich zwar den Missionsbefehl, aber ich hatte noch wenig Ahnung von der Welt. Als ich dann begann, im Ausland Missionsarbeit zu machen, merkte ich schnell: Es war den Menschen egal, ob wir Christen sind oder nicht, so lange wir ihnen unsere Religion nicht aufzwingen. Wenn wir ihnen helfen beim Aufbau von Schulen und Krankenhäusern, wie wir es erst in Vietnam, dann in Afghanistan getan haben, sind sie uns gegenüber offen. Was sie nicht wollen, ist, dass wir unsere Religion als Mittel zum Zweck nehmen, um irgendwelche Ziele zu erreichen. Aber genau das tut der christliche Nationalismus: Er missbraucht die Religion zum Zweck. Die Frage ist doch: Existiert der Glaube, um den Menschen im Namen von Jesu zu dienen? Oder soll die Gesellschaft durch Religion dazu gezwungen werden, einer religiösen Vorstellung zu folgen?
Welche Rolle spielt für Sie das Konzept der Nation, das christliche Nationalisten so hochhalten?
Der Glaube verbindet Menschen über Nationen hinweg. Die gemeinsame Identität von Christen besteht im Königreich Gottes, durch Menschen, die Bürger verschiedenster Nationen sind. Ich will Salz der Erde und Licht der Welt sein mit meinen christlichen Werten, aber ich muss niemandem das Konzept einer christlichen Nation überstülpen.
Ein konservativer Brückenbauer
Bob Roberts, 66, gründete 1985 die Northwood Church nördlich von Dallas. Sie gehört zum Verband der Southern Baptist Convention – der grössten protestantischen Konfession in den USA mit einer sehr konservativen Ausrichtung. Die Northwood Church ist dennoch explizit Heimat für Menschen verschiedenster Herkunft und setzt sich für Migranten und Geflüchtete ein. Roberts ist zudem eng vernetzt mit Vertretern verschiedener Religionen. Für sein Engagement im interreligiösen Dialog wurde er gar von Präsident Joe Biden ins weisse Haus eingeladen. Auch als Kirchengründer ist Roberts in den USA bekannt: In den vergangenen Jahrzehnten unterstützte er mit Hilfe seiner Organisation Glocalnet rund 300 Gemeinden bei der Gründung und dem Aufbau.
Sie sind sehr aktiv im interreligiösen Dialog. Das ist für evangelikale Pastoren eher unüblich. Akzeptieren Sie andere Religionen genauso wie das Christentum?
Ich pflege beispielsweise engen und auch freundschaftlichen Kontakt mit vielen muslimischen Vertretern. Wir sprechen viel über unseren jeweiligen Glauben. Und wir sind uns nicht einig. Ich glaube, dass der Weg zu Gott über Jesus führt. Und ich sage ihnen, dass ich sie am liebsten alle taufen würde. Das bringt sie dann immer zum Lachen. Aber der Wert des Glaubens bemisst sich nicht nur daran, dass man ihm anhängt. Sondern auch wie sehr man ein Segen ist für Menschen ausserhalb des eigenen Glaubens. Unser Glaube gebietet es, ein Segen für die ganze Menschheit zu sein, egal ob sie Jesus folgt oder nicht. Mein Glaube besagt, jeder Mensch hat das Recht zur Existenz. Jeder hat das Recht zu entscheiden, ob er glaubt wie ich oder nicht. Und wenn jemand einer anderen Religion anhängt, so hat er das gleiche Recht auf Staatsbürgerschaft und geniesst die gleichen Bürgerrechte. Das ist schliesslich Religionsfreiheit.
Heute bewerben sie die Northwood Church als multi-ethnische Kirche. Wie kam es dazu?
Wie viele andere Kirchen der Southern Baptist Convention waren wir eine weisse Gemeinde. Doch 2010 entschieden wir uns ganz bewusst, unsere Kirche für Menschen verschiedenster Herkunft zu öffnen. Denn das Evangelium sagt, dass wir eins sind in Jesus. Wir stellten schwarze Pfarrer und Mitarbeitende ein. Wir verloren damals hunderte Mitglieder, aber wir wollten eine multi-ethnische Kirche werden. Damit kamen ganz neue Fragen auf, denn die Gemeinde wurde mit Blick auf die politische Ausrichtung ihrer Mitglieder vielfältiger. Wir setzten uns stark damit auseinander, was der Begriff evangelikal eigentlich bedeutet. Traditionell sind weisse evangelikale Gemeinden eher den Republikanern zugeneigt. Wir fragten uns: Kann man als Evangelikaler Demokrat sein? Oder sollte man sogar? Wir wurden immer offener in unseren Diskussionen und in unserer Haltung.
Wie offen sind Sie gegenüber der Migration? Das ist gerade in Texas mit der Grenze zu Mexico ein heisses Eisen.
Dass wir eine Lösung für unsere Probleme an der Grenze finden müssen, ist offensichtlich. Unsere Systeme sind dem Ansturm an Menschen nicht gewachsen. Aber Jesus hat eine klare Ansage gemacht: Liebe Deinen Nachbarn, liebe den Fremden, den Obdachlosen, ja sogar Deinen Feind. Wenn Flüchtlinge hier sind, egal ob aus Mexiko, Afghanistan oder der Ukraine, dann kann ich doch nicht sagen, «klar, Jesus sagt, man solle seinen Nächsten lieben, aber Du bist ein Einwanderer und deswegen kann ich das nicht tun!» Wir helfen in unserer Gemeinde Menschen aus verschiedensten Ländern. Christliche Nationalisten behaupten, dass wir uns durch diese Menschen von Gott entfernen. Dabei ist es doch der Heilige Geist, der uns zu Gott bringt, keine Nation und keine Regierung.
Wie sehr beunruhigt Sie das Erstarken des christlichen Nationalismus?
Diese Ideologie gibt es ja, seit die Pilgerväter hierherkamen. Doch auch damals gab es schon zwei Strömungen: Die einen wollten eine christliche Nation. Und dann gab auch den Gründer von Rhode Island, Roger Williams. Er gilt als Vater der Religionsfreiheit und lud Menschen verschiedensten Glauben dazu ein, sich niederzulassen. Er war ein Christ, der in einer Nation wirkte, aber auch Platz machte für Menschen anderen Glaubens. Ich würde sagen, die Gründerväter erschufen keine christliche Nation, sondern eine Nation, deren Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich an Gott glaubten und sich an christlichen Werten orientierten. Diese christlichen Werte liessen auch Andersgläubigen den Raum, sich zu entwickeln. Nationalismus und Evangelikalismus – das sind wie zwei Flüsse, die nebeneinander fliessen und sich immer wieder vermischen: vor dem Bürgerkrieg, danach, kurz vor dem zweiten Weltkrieg. Und jetzt wieder. Und es ist eine Aufgabe der Evangelikalen, diesen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen.
Und tun sie das ausreichend?
Nein. Unser Land steckt tief im Schlamassel. Es gibt radikal linke und radikal rechte Positionen. Viele Evangelikale fühlen sich wohler in der rechten Ecke, weil sie glauben, dass dort ihre Positionen mit Blick auf Abtreibung, die LGBTQ-Rechte und so weiter eher berücksichtigt werden. Das ist ein Irrtum. Zwar hat Donald Trump während seiner Präsidentschaft durch die Ernennung konservativer Richter erwirkt, dass das landesweite Recht auf Abtreibungen gekippt wurde. Aber kürzlich sprach er sich gegen ein nationales Verbot von Abtreibungen aus. Viele republikanische Politiker sind neuerdings für Fristenlösungen. Wir sind pro-life, also entspricht das nicht unserer Position. Ich bin traditionell ein Konservativer, obwohl ich mit allen Parteien zusammenarbeite. Doch viele Evangelikale liessen sich von der Republikanischen Partei vor den Karren spannen, nur wegen der Abtreibungsdebatte. Und dann versuchten die Republikaner, sich als «die christliche Partei» zu verkaufen, die eine christliche Nation erschaffen will. Wir dürfen nicht zulassen, dass unser Glaube durch eine politische Partei definiert wird. Sonst überlassen wir dem Christlichen Nationalismus das Feld.
Gerade Donald Trump spielt mit dem Image des Heilsbringers und inszeniert sich gerne entsprechend, etwa im Video «Gott erschuf Trump». Wie kommt das bei Ihnen an?
Donald Trump wird vor Gott knien müssen wie jeder andere Mensch auch. Gott hob einzig seinen Sohn auf den Thron. Deshalb dürfen wir allein zu Jesus aufschauen. Tatsache ist, dass viele evangelikale Pastoren trotzdem auf Trump setzen und sogar Wahlempfehlungen geben, weil das die Massen in die Kirchen treibt. Das ist ein Personenkult um einen Politiker, obwohl es in den Kirchen doch um Jesus Christus gehen sollte und um die prophetischen Botschaften der Bibel.
Evangelikale Pastoren, die politisch anderer Meinung sind, sind stark unter Druck. Viele trauen sich kaum, vor ihrer Gemeinde ihre Meinung zu äussern. Sie haben Angst, ihren Job zu verlieren.
Gerade junge Pfarrer sind verzweifelt, viele sind kurz davor, selbst zu kündigen und fragen mich um Rat. Sie haben den Eindruck, dem Evangelium nicht gerecht zu werden. Laut einer Erhebung aus dem Jahr 2021 bekommt fast die Hälfte aller protestantischen Pastoren mit, dass Gemeindemitglieder Verschwörungstheorien äussern. Das ist alarmierend! Und dennoch müssen Pastoren dagegenhalten, selbst wenn es schwerfällt.
Was sollen sie tun?
Wir haben mit meinem Netzwerk von Menschen verschiedener Religionen eine Anleitung zum Friedensstiften entwickelt, ein Werkzeug, um in Gemeinden den Dialog zu erleichtern. Gedacht ist sie für Kirchenleitende, aber alle können sie nutzen, sie ist frei im Internet verfügbar. Im Zentrum stehen grundsätzliche Fragen: Wie starte ich ein schwieriges Gespräch? Wie höre ich zu? Welche Fragen stelle ich? Und die Anleitung gibt Beispiele für Gesprächsführungen zu den wichtigsten Themen, die in Gemeinden aufkommen. Auch wenn es um die Radikalisierung von Gemeinden geht. Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber die Gräben sind tatsächlich tief. Wir Christen haben die Glaubwürdigkeit als Friedensstifter verloren, weil wir nicht einmal untereinander Frieden stiften können. Wir beschweren uns über Menschen anderer Religionen, dabei sind wir selbst in einem riesigen Schlamassel.
Eine bittere Diagnose für das Amerikanische Christentum und die Kirchen.
Ja, wobei sich der Christliche Nationalismus nicht auf die USA beschränkt. In vielen europäischen Ländern sieht man solche Entwicklungen. Und dennoch habe ich Hoffnung. Schauen wir in andere Regionen: Dort wächst das Christentum rasant, etwa in China oder Indien. Die Kirche ist die Braut Jesu und am Ende wird es gut kommen. Dieser Zustand heute ist ein vorübergehender Zustand. Ich sehe ihn als einen reinigenden Prozess, aus dem wir gestärkt herauskommen werden. In den letzten Jahrhunderten gab es immer wieder Erweckungsbewegungen. Und ich denke, so eine steht uns wieder bevor.
Immer präsenter in der Gesellschaft
Christlicher Nationalismus ist eine Ideologie, die nationale Identität mit dem christlichen Glauben vermischt. In vielen Ländern präsent, hat sie in den USA in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker an Aufmerksamkeit gewonnen. Auch weil sich Politiker und hochrangige Beamte vermehrt mit den Zielen Christlicher Nationalisten gemein machten. Letztere fordern, dass der Staat auf christlichen Werten basieren soll und sich dies auch in Gesetzen widerspiegelt. Die Anhänger der Ideologie arbeiten auf eine Gesellschaft hin, in der weisse Menschen den Ton angeben und wichtige Stellen in Politik und Wirtschaft besetzen. Abtreibung und LGBTQ-Rechte lehnen sie ab und teilen damit in gesellschaftlichen Diskussionen oft auch Positionen konservativer Christen. Viele christliche Nationalisten sehen in Donald Trump einen Heilsbringer. Jüngste Erhebungen des Public Religion Research Institute (PRRI) zeigen: Drei von zehn US-Amerikanern sind Anhänger oder Sympathisanten von Christlichem Nationalismus, vor allem in republikanisch geprägten Bundesstaaten ist er verbreitet. Besonders offen dafür sind weiße und lateinamerikanische Evangelikale, bei denen 66, respektive 55 Prozent der Ideologie anhängen. Dennoch bemühen sich auch in konservativen Bundesstaaten wie Texas vermehrt Christen, dem Nationalismus etwas entgegenzusetzen.
«Christlicher Nationalismus missbraucht Religion zum Zweck»