«Da sind alle Worte fehl am Platz»
Claudia Henne, was kann man sagen, wenn Eltern ihr Kind während der Schwangerschaft oder nach der Geburt verlieren? Ist da nicht jedes Wort falsch?
Ja, in so einem Moment sind viele Worte und Ratschläge fehl am Platz und können verletzen. Man muss wirklich jedes Wort auf die Goldwaage legen. Das Wichtigste ist, in dieser Situation beizustehen, mitzufühlen und die Eltern erzählen zu lassen. Mir sind auch schon Tränen geflossen. Manchmal wünschen sich die Eltern ein Gebet, eine Segnung des Kindes oder eine Taufe. Man heisst das Kind bewusst willkommen und verabschiedet sich gleichzeitig von ihm. Diese Gleichzeitigkeit von Ankunft und Abschied ist bei frühem Kindsverlust einzigartig und macht es so schwer.
Früher war der Tod eines Kindes während der Schwangerschaft tabu. Hat sich dies geändert?
Sicher, vor allem in den Spitälern und in der Medizin hat sich dies massiv verändert. Man ist heute viel stärker für den Umgang mit dem Kindsverlust sensibilisiert. Die Eltern können ihr Kind nochmals sehen oder eine Nacht lang bei sich behalten. Und es gibt Grabstätten auch für frühe Kindsverluste, hier werden jene Kinder beigesetzt, die zu einem frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft gestorben sind.Früher ist den Eltern die Möglichkeit genommen worden, sich vom Kind zu verabschieden. Ich kenne ältere Frauen, die erstmals auf dem Sterbebett davon erzählten. Die Eltern wussten nicht einmal, ob es ein Bub oder ein Mädchen war und wohin ihr verstorbenes Kind kam. Ihre Trauer war erstarrt.
Wie wichtig ist es, dass die Familien einen Ort für ihre Trauer haben?
Je nach Persönlichkeit ist dies sehr wichtig. Der Ort muss jedoch nicht eine Grabstätte sein, sondern kann auch etwas sein, was bei der Erinnerung hilft: Ein besonderer Ort in der Natur oder zuhause, ein Foto-album, eine Schachtel mit Erinnerungsstücken ...
Helfen Abschiedszeremonien?
Ja, sie sind hilfreich – auch hier ist es natürlich sehr individuell, wann und in welchem Rahmen es für die Angehörigen stimmt. Bei einer individuellen Feier können Geschwister und Familien stärker miteinbezogen werden. Bei der jährlichen Gedenkfeier an der Grabstätte für früh verlorene Kinder auf dem Waldfriedhof in Schaffhausen, die wir mit einem Team aus Hebammen, Betroffenen und der Seelsorge gestalten, spüren die Betroffenen, wie die Gemeinschaft trägt.
Wie gross ist die Gefahr, dass Paare am Kindstod zerbrechen?
Das kann leider vorkommen, die Herausforderung für trauernde Paare ist immens. Wir alle trauern anders. Die Schwierigkeit ist, dass sich die Partner in ihrer Trauer nicht verstanden fühlen. Deshalb sollte man sich darüber austauschen: Wo stehe ich in meiner Trauer, und was sind meine Gefühle und Bedürfnisse? Hinzu kommt, dass Väter und Mütter die Schwangerschaft und die Geburt anders erleben. Für eine Mutter ist es eine einzigartige Erfahrung, sie ist leiblich mit dem Kind während der Schwangerschaft verbunden. In ihr wächst das Kind heran, das ist ein körperlicher und seelischer Prozess zugleich – auch bei einem Verlust. Der Vater ist da in einer ganz anderen Rolle und kann diese körperliche Erfahrung nie ganz nachfühlen. Diese Herausforderung kann zur Belastungsprobe für die Beziehung werden. Ein Coach oder eine psychologische Begleitung können hier helfen, um wieder zueinander zu finden.
Wie erleben die Geschwister den Verlust des Brüderchens oder des Schwesterchens?
Auch Kinder trauern – in jedem Lebensalter. Kinder im Vorschulalter haben aber eine andere Sicht auf den Tod. Erst Sechs- bis Siebenjährige erfassen, dass der Tod mehr als Einschlafen bedeutet. Eltern und Grosseltern sollten Fragen der Kinder aufnehmen, erzählen, was passiert ist, und mit ihnen zusammen nach tröstlichen Bildern suchen, wo jetzt die Schwester oder der Bruder ist. Erwachsene müssen nicht auf alles eine Antwort haben – aber die Fragen und Bedürfnisse der Kinder ernstnehmen. Es gibt wunderbare Bilderbücher zu dieser Thematik, die man gemeinsam anschauen kann.
Meist stecken die Eltern ja auch in der Trauer.
Ja. Das ist gerade für kleinere Kinder vermutlich die grösste Herausforderung. Beim Todesfall werden die Kinder mit der Trauer der Eltern konfrontiert, sie erleben Mami und Papi als abwesend und traurig. Manche Kinder fühlen sich schuldig, dass es den Eltern so schlecht geht. Sie fragen sich: Was habe ich falsch gemacht? Es ist wichtig, dass Eltern den Kindern erklären, warum sie traurig sind und wie sich das für sie anfühlt. Wichtig ist aber auch, dass die Kinder die Trauer der Eltern nicht tragen müssen, sondern die Eltern ihnen signalisieren, dass sie auch Hilfe bekommen von anderen Menschen.
Wie lange dauert die Trauer?
Unsere Trauerkultur erwartet, dass die schlimmste Phase bis zur Beerdigung anhält und nach einem Jahr abgeschlossen ist. Bei schweren Verlusten – und der Kindstod gehört hier dazu – reicht dieses Jahr jedoch nicht. Im ersten Jahr geht es häufig um das Überwinden des Schocks und das Überleben. Es ist generell schwierig, Trauer in Zeiträume zu fassen, aber heute geht man eher von einem Zeithorizont von drei bis fünf Jahren aus für den ersten intensiven Trauerprozess. Die Trauer begleitet Menschen wohl ein Leben lang, sie kann sich aber wandeln.
Was kann das Umfeld in einer solchen Situation tun?
Was den betroffenen Eltern nicht guttut, sind Bemerkungen, die zwar gut gemeint sind, aber verletzen. Wie etwa, «du bist noch jung und kannst noch Kinder haben», «es wäre ja sicher behindert gewesen» oder
«vor der 12. Schwangerschaftswoche ist es noch nicht so schlimm». Solche Sätze treffen die Betroffenen wie -Messerstiche. Es ist besser, man drückt seine eigene Ohnmacht aus und erklärt: Ich weiss gar nicht, was ich sagen kann, aber ich bin bei euch.
Das scheint wenig.
«Zu wenig» wäre eher, Begegnungen oder das Thema ganz vermeiden. Ein Tabuisieren führt oft zu einer Isolation der Trauernden. Ich glaube, das pure Dasein, Aushalten und Mitfühlen dieser Trauer, sind schon in sich tröstlich. Hilfreich ist es auch, ein offenes Ohr anzubieten für die Erinnerungen an das Kind. Gut tut auch das Angebot von konkreter Hilfe. Fragen wie: Kann ich dir das Mittagessen bringen oder jeden zweiten Mittwoch die Kinder hüten? Solche konkreten Angebote helfen zum Überleben.
Wann sollte man sich Hilfe bei einem Seelsorger, einer Seelsorgerin oder einem Psychologen holen?
Das ist individuell. Grundsätzlich dann, wenn die Betroffenen merken, dass sie den Alltag nicht mehr bewältigen können oder somatische Beschwerden wie zum Beispiel Herzbeschwerden oder langandauernde Schlafstörungen zeigen. Da ist Hilfe angesagt, wie auch wenn Kinder in der Trauer regredieren und zum Beispiel wieder einnässen.
Hält der Schmerz ein Leben lang?
Ein schwerer Verlust wird einen ein Leben lang begleiten, aber die Qualität wird sich ändern. Im besten Fall wird er wie eine Narbe oder ein Bruch bleiben, die man je nach Wetterlage spürt. Der Schmerz über den Verlust und die Lücke im Leben ist ja der Ausdruck der Liebe zum Verstorbenen und gleichsam die bleibende Verbindung. Vielleicht verwandelt sich dieser Schmerz mit der Zeit in eine Sehnsucht, die einen begleitet und die Verbundenheit liebevoll erhält.
Tilmann Zuber, Kirchenbote, 23.2.2023
«Da sind alle Worte fehl am Platz»