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Damit im Lockdown die Menschlichkeit nicht vergessen geht

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23.05.2020
Im Kurzfilm «Dass niemand weiss» wird in der Stadt Zürich der Abfall lebendig. Aus Sehnsucht nach einer Umarmung stehlen sich fünf Menschen in den Wald. Edy Hubacher, Kugelstösser, Diskuswerfer und Olympia-Sieger im Viererbob, hat den Film für «reformiert.» geschaut.

Ein Grünabfuhrkübel auf Beinen stakst eine Treppe hinunter. Bald erhebt sich ein menschenhoher Turm aus zusammengeklebten Kartonschachteln am Trottoirrand und schwankt über den Escher-Wyss-Platz im Zürcher Stadtkreis 5. Ein weisser 110-Liter-Gebührenkehrichtsack trippelt schnell los, zur Tarnung duckt er sich immer wieder und verharrt bewegungslos – wie ein richtiger «Ghüdersack».

Witzig und skurril beginnt der Kurzfilm von Martin Guggisberg und Ruth Schwegler. Guggisberg ist Drehbuchautor, Regisseur und Fotograf – er arbeitet auch regelmässig für «reformiert.». Ruth Schwegler ist Schauspielerin und Kommunikationstrainerin. Mit der gemeinsamen Firma «so&so« haben sie schon den Spielfilm «Usgrächnet Gähwilers» in die Kinos gebracht. Den Kurzfilm «Dass niemand weiss» haben sie für die «Collection Lockdown» des Schweizer Fernsehens produziert, die während der Coronakrise gezeigt wurde.

Wohltuend langsam
Der bekannte ehemalige Leichtathlet und Bobfahrer Edy Hubacher hat den knapp viereinhalb minütigen Film zufällig im Fernsehen gesehen. «Mir fiel als Erstes auf, wie wohltuend langsam er ist, verglichen mit dem, was vorher und nachher über den Bildschirm flimmerte», erzählt er. Zuerst habe er die Stirne gerunzelt. «Ich fragte mich: Ist das eines der häufig unsäglichen Corona-Videos, die einem dauernd aufs Handy geschickt werden?» 

Doch dann hat sich der heute achtzigjährige Olympiasieger im Viererbob von 1972 für «reformiert.» den online zugänglichen Film noch genauer angeschaut. «Als ich die Geschichte zum zweiten Mal betrachtet hatte, verstand ich sie besser, freute ich mich darüber und konnte nicht aufhören zu schmunzeln», berichtet er. Die Idee, dass sich Leute als Abfall verkleidet in den Wald schleichen, um sich zu treffen, zeuge von echtem Humor. Dem einstigen Leistungssportler ist auch die «artistische Leistung» aufgefallen, mit der sich der Kehrichtsack ins Tram wälzt.

Berührungen fehlen
Im Wald angekommen, schlüpfen vier ältere Frauen und Männer aus Containern, Abfallsäcken und Kartonschachteln heraus. Verkörpert werden sie von bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern wie Maja Stolle und Jaap Achterberg. Sie reichen sich die Hände, lachen, umarmen sich. «Die Erlösung und die Lebensfreude, die sich in ihren Gesichtern spiegeln, haben mich berührt», sagt Hubacher. Die Szene drücke gut aus, dass die körperliche Berührung während der Coronakrise vielen Menschen fehle.

Kurz gefragt hat sich der Olympiasieger allerdings, ob das Umarmen «im Sinne von Daniel Koch vom BAG» sei. «Die Seniorinnen und Senioren hätten sich im Wald auch auf eine originelle Art im Rahmen der Regeln begrüssen können», findet er.

Nein, betont Filmemacher Martin Guggisberg, das Umarmen sei für die Kernbotschaft des Films sehr wichtig. «Die Umarmung steht für die Menschlichkeit, die in der Coronakrise leider manchmal auf der Strecke blieb und sogar relativ wurde.» Er betont aber, dass die vier Schauspielenden vor dem Dreh der kurzen Umarmungsszene einzeln mehrere Wochen in Quarantäne waren und keine Erkältungssymptome hatten. Sogar ein Arzt segnete sie ab. In den Containern und Kehrichtsäcken steckten übrigens jugendliche Tänzerinnen, nicht die älteren Schauspielenden.

Ältere Menschen im Schussfeld
Unter Berücksichtigung der geltenden Hygiene- und Abstandsregen haben dreissig Freiwillige zwei Wochen intensiv am Film gearbeitet. «Es war ein solidarischer Dreh, der nur dank der Unterstützung zahlreicher Menschen möglich war.»

Ausgangspunkt fürs Drehbuch war die Beobachtung von Guggisberg und Schwegler, dass ältere Menschen im Lockdown auf der Strasse öfters «regelrecht diskriminiert» wurden. «Freunde von uns wurden beschimpft, weil sie nicht zuhause blieben, das fanden wir krass.»

So eine Szene erlebte auch Edy Hubacher. Zu Beginn der Coronakrise sei er auf einem Waldspaziergang mit seiner Frau von Passanten böse angeschaut worden, erzählt er. Für ihn sei aber sofort klar gewesen: «Das muss ich nicht haben.» Fortan führten seine Spaziergänge nur noch um Haus, Atelier und Garten. Zu seinem achtzigsten Geburtstag vom 15. April lancierte er eine «Birthday Challenge»: Inspiriert vom britischen Speerwerfer James Campbell, der in seinem sechs Meter grossen Garten einen Marathon gelaufen war, absolvierte er eine 10-Kilometer-Wanderung rund ums Haus, inklusive Treppen. Er sammelte damit Spenden für «Special Olympics», eine Sportorganisation für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung.

Unterstützt wurde er bei der Challenge von Frau, Töchtern und Enkelinnen. Hubacher lebt in einem Viergenerationenhaus und hatte so auch während des Lockdowns viel sozialen Kontakt, sogar mit seiner Urenkelin. Dafür bin ich dankbar, sagt er. «Ich bin mir bewusst, dass ich privilegiert bin. Viele Menschen in meinem Alter waren während der Coronakrise isoliert und sind es immer noch.» 

Solchen Menschen Mut zuzusprechen, auch das ist eine Absicht des Kurzfilms vom clandestinen Treffen der Menschen, die sich eine Umarmung nicht nehmen lassen wollen.

Sabine Schüpbach, reformiert.info

Der Film ist hier abrufbar.

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