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Danke für eine andere Schweiz

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13.02.2017
Am vergangenen Samstag verstarb Kurt Marti. Wie kein zweiter prägte der Pfarrer und Lyriker, der auch politisch kein Blatt vor den Mund nahm, die schweizerische Nachkriegskultur. Die Theaterfrau Eva Müller und der Pfarrer Michael Ott besuchten vor vier Jahren den damals 92-Jährigen.

Wir drücken die Klingel, die Türe der Alterswohnung öffnet sich, und da steht er, Kurt Marti, 92 Jahre alt, ein noch stattlicher Mann mit freundlichem Gesicht. Verwundert und mit einem leicht verlegenen Lächeln schaut er uns an und sagt, dass er leider keine Zeit habe, da er noch einen Besuch erwarte. «Ja, ja, das sind wir.» Wir blicken uns fragend an.

Das Zusammentreffen mit dem bedeutenden Dichter und Berner Theologen an diesem ersten Tag im November erstaunt uns selber. Sind wir nicht viel zu spät? Die drei von Hand geschriebenen Briefe, datiert Ende der Achtzigerjahre, in denen uns Kurt Marti freundlich aufgefordert hat, ihn in Bern besuchen zu kommen, liegen zuoberst im Handkoffer voller Mitbringsel. Sie sind sozusagen unsere anachronistische Lizenz oder Legitimation, ihn jetzt nach beinahe fünfundzwanzig Jahren in seinem Alterssitz aufzusuchen.

«Sprachsinn und Wortgespür» hat er uns, der werdenden Schauspielerin und dem angehenden Theologen, damals zugebilligt. Dies in Zusammenhang mit unserem Engagement nach «Tschernobâle» 1987 und 1989 im Rahmen der Europäischen Ökumenischen Versammlung in Basel zum Thema «Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung». Dieses Kompliment von Kurt Marti hat uns dazumal förmlich umgehauen und sprachlos gemacht. Offenbar fühlen wir uns erst jetzt, ein Vierteljahrhundert später, diesem Lob aus seinem Mund und damit auch einer persönlichen Begegnung gewachsen. Natürlich haben wir uns telefonisch angemeldet und er – hat zugesagt.

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Am 26. November 1989 konnte die «Volksinitiative für eine Schweiz ohne Armee» beinahe 36 Prozent aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen – ein Resultat, das selbst Optimisten im Lager der Armeeabschaffer überrascht und die Militärs dazu gezwungen hat, wenigstens die stossendsten Missstände wie etwa das Dienstverweigererproblem neu anzugehen.

Die so genannte «Andere Schweiz», die für diesen Stimmenanteil von 35 Prozent verantwortlich zeichnete, ist eng mit dem Wirken des Berner Pfarrers und Schriftstellers Kurt Marti verbunden. Ohne ihn ist sie in diesem Ausmass kaum denkbar. Seit er sich 1959 als junger Pfarrer gegen die Atombewaffnung der Schweizer Armee gewehrt hatte, war er zum festen Bestandteil der Opposition in diesem Land geworden – sei es als Aktivist im Kampf gegen die Atomkraftwerke oder als Warner vor Exzessen des Staatsschutzes, sei es als Verteidiger eines Dienstverweigerers vor dem Militärgericht oder als unermüdlicher Anwalt für die in ihrem Grundbestand bedrohte Natur.

Kurt Martis Engagement ist geprägt von dem Bestreben, vorgegebene Zwänge zu unterlaufen, und sich so von ihnen zu befreien – das Schlagwort Befreiung vermag seine Arbeit denn auch am ehesten auf den Punkt zu bringen.

Der Schriftsteller Marti hatte es in den sechziger Jahren gewagt, das totgelaufene und totgesagte Verhältnis zwischen Religion und Poesie neu zu beleben – Versuche, die zum Teil der literarischen Avantgarde zugerechnet werden. Gleichzeitig nutzte er konsequent die Chance der Zweisprachigkeit, die mit dem Dialekt in das Dichten kommen kann, und wurde damit einer der Hauptinitianten der «Dialektwelle», die in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre bestimmend für das Selbstverständnis einer neuen kritischen Generation in der deutschen Schweiz wurde.

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Kurt Marti steht immer noch lächelnd im Türrahmen, immer noch etwas skeptisch. Endlich bittet er uns, seine Hände inzwischen voller Geschenke, einzutreten.

Das ist der Mann, dessen Schriften unsere Väter, die ebenfalls von Beruf reformierte Pfarrer waren, in ihrer täglichen Arbeit inspirierten, unterstützten und begleiteten. Seine Aufsätze, Gedichte, Traktate, Tagebücher und Predigten, deren existenzielles Gedankengut kaum Staub angesetzt hat, beeindrucken und berühren uns immer noch. «Ach ja, ich habe so viel geschrieben!» Beinahe ungläubig blickt er auf seine von ihm soeben signierten Bücher und lächelt weise. Die Namen, die bei unseren mündlichen Ausführungen und Berichten fallen, und die Grüsse, die wir auszurichten haben, quittiert er jeweils mit einer müden Geste. Er weist auf seine Stirn und meint lakonisch: «Das Gedächtnis – das ist nicht mehr wie früher. »

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Der Theologe Marti ging von Anfang an von einem «zu entgötzenden Gott» aus, der so zum Initianten menschlicher Befreiung und Bundesgenossen sowohl für die Versklavten und Resignierten als auch für jene wird, die für mehr Freiheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit eintreten.

Aus der Erkenntnis heraus, dass das höchst theologische und poetische Reden immer politisch ist, fand sich Kurt Marti bald in einem Abwehrkampf gegen die Verfechter der Zivilreligion. Seine 1963 in den «Gedichten am Rand» entwickelte befreiend neue Gottessprache und seine ätzende Kritik an sinnentleerten Ritualen der bürgerlichen Religion, wie beispielsweise 1969 in den «Leichenreden» formuliert, beunruhigten diese zutiefst.

Das politische Engagement war für Kurt Marti logische Konsequenz dieser Einsichten. Dies führte dazu, dass 1972 der Berner Regierungsrat ihn – den damaligen Pfarrer an der Nydeggkirche und von der Berner Theologischen Fakultät einstimmig als Homiletiker vorgeschlagen – ausdrücklich wegen seiner politischen Haltung («Dreiviertelkommunist») als Universitätsdozenten rundweg ablehnte. Martis literarische Reaktion auf dieses Scharmützel des Kalten Krieges, sein Tagebuch «Zum Beispiel Bern 1972», wurde zu einem Standardwerk der «anderen Schweiz».

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Als wir Kurt Marti um ein Foto bitten, führt er uns bereitwillig auf seinen Balkon, der von herbstlich farbigen Baumkronen umgeben ist und einen schönen Blick hinauf zu den fernen Bergen bietet. Kurt Marti lässt sich grosszügig fotografieren, als wären wir ein Teil seiner Familie. Er spielt unser Spiel mit.

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Kurt Marti, der sich als ehemaliger Gemeindepfarrer nicht zu den Fachgelehrten zählte, erlebte die akademische Theologie oft als «thé au logis», als Fachwissenschaft, die in Mitteleuropa meist realitätsfern als Heimarbeit betrieben wird, im Logis also und «noch so gern mit einer Tasse Tee auf dem Schreibtisch». Für ihn waren jedefrau und jedermann, die Gott nach-denken – und wer tut das nicht? – Theologen. «Theo-Logie», das Reden von Gott, ereignet sich nach Marti überall da, wo Menschen «in ihren persönlichen und gemeinsamen Erlebnissen und Erleidnissen» nach möglicher Gegenwart und Zukunft zu fragen beginnen. Er war überzeugt, dass die Disziplin «Theologie» ohne Entdeckung und Einbezug dieser übergangenen «Theologie von unten» nicht aus ihrer heutigen Marginalität herauskommt.

So gehören Martis kleine Geschichten über kleine Leute essentiell zu seiner Theologie. Es sind, ähnlich wie auch seine Gedichte und Aufzeichnungen, aufs äusserste verdichtete kurze Texte. Marti kommt durch diese «Heiligung des Banalen», die Beschreibung unscheinbarer Menschenschicksale, genau den Kräften auf die Spur, denen er durch sein Wirken zum Durchbruch verhelfen wollte. Kräfte, die – verschüttet von den unterjochenden Zwängen unseres Gesellschaftssystems – brachliegen und oft ein Leben lang vergeblich auf ihre Befreiung warten.

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Auf der ganzen Heimreise begleitet uns Martis Schweigen. Ein Schweigen, das fast kippt, als uns klar wird, was uns neben vielem eben auch so beeindruckt, besser gerührt hat: Dass Kurt Marti das Altersheimzimmer seiner innig geliebten Frau Hanni «geerbt» hat, und dass eine wunderbare Fotografie von Hanni über seinem Bett hängt. Irgendwie fühlen wir uns auf der Heimfahrt der nebligen Mittellandautobahn entlang Kurt Marti ganz nahe.

Und darum bleibt uns nur zu sagen: Vielen lieben Dank, lieber Kurt Marti, hoffentlich, natürlich und sicher auch im Namen vieler, für Ihr jahrzehntelanges Reden, Schreiben und Schweigen zugunsten aller; und das immer – so finden wir jedenfalls – zur rechten Zeit und am richtigen Ort. Der Besuch bei Ihnen hat uns die alte Weisheit der Menschen und damit Gottes erahnen lassen: Dass nämlich nichts verloren geht und die Liebe bleibt.

Eva Müller, Michael Ott / Kirchenbote / 13. Februar 2017

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

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