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Das Jenseits beginnt schon im Diesseits

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01.01.2016
Hölle, Paradies und Nahtoderlebnisse? Anhand der biblischen Texte versucht der Zürcher Theologe Samuel Vollenweider Antworten zu finden. Es zeigt sich: Im Neuen Testament gibt es verschiedene Hoffnungen, wie es nach dem Tode weitergeht.

Herr Vollenweider, glauben Sie an ein Jenseits?
Persönlich kann ich mir vorstellen, dass es nach dem Tode irgendwie weitergeht. Ich vertraue darauf, beim Verlassen dieser Welt nicht in ein Nichts zu fallen, sondern aufgefangen zu werden und in etwas Grösserem aufzugehen.

Sagt dies auch das Neue Testament?
Jetzt wechseln wir die Ebene von persönlichen Einstellungen zu geschichtlichen Beobachtungen. Das Neue Testament ist in der antiken Welt entstanden, in der andere Anschauungen und Erwartungen vorherrschten als heute.

Gibt es da konkrete Vorstellungen im Bezug auf das Leben nach dem Tod?
Das Neue Testament schliesst aus, dass mit dem Tod alles endet, widerspricht also dem Satz, der auf so manchen antiken Grabsteinen steht: «Essen und trinken wir, denn morgen sind wir tot.» Im damaligen Judentum gab es zwei Linien, die sich im Neuen Testament spiegeln: Einerseits rechnete man mit einer individuellen Fortexistenz in Gottes Nähe oder an einem dunklen Strafort. Andrerseits hoffte man darauf, dass die ganze Welt neu geschaffen werde und es zur Auferstehung der Toten kommt.

Wie sahen dies die Jünger, die Jesus nachfolgten?
Auch sie erwarteten in naher Zukunft Totenauferstehung und Weltgericht. Sie sprachen aber auch davon, dass sich das kommende Gottesreich schon jetzt ereignet, bruchstückweise hier im diesseitigen Leben. Weil Jesus auferstanden ist, haben jene, die ihm nachfolgen, schon jetzt Anteil an der Auferstehung. «Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt», erklärt Jesus in Johannes 11,25.

Dieser Bibelvers wird oft bei Beerdigungen gelesen. Ist der christliche Glaube ohne den Glauben an das Jenseits vorstellbar?
Aufgrund der neutestamentlichen Texte ist klar: Christen haben eine Hoffnung in Bezug auf den Tod. Doch die Überzeugungen der Christen haben sich zwischen Antike und Neuzeit vielfach verändert. In der evangelischen Theologie sagt man gern, dass der Mensch wirklich voll und ganz stirbt, um dann von Gott aus dem Tod neu erweckt zu werden.

Was ist Ihre Haltung dazu?
Ich bin der Meinung, dass man Auferstehung und Jenseits nicht so trennscharf gegeneinander ausspielen soll. Im Sterben treten wir ja aus dem uns vertrauten Raum-Zeit-Gefüge aus; eine ganz andere Welt tut sich auf, die die alten Texte «Himmel» oder «Jenseits» nannten. Entscheidend ist es aber, zu fragen, welche Bedeutung die Hoffnung auf ein «Jenseits» für unser Leben im «Diesseits» hat. Wenn sie Zuversicht, Mut und Hoffnung spendet, dann ist sie ein Gewinn: im gegenwärtigen Leben unsere individuellen Möglichkeiten zu entfalten und soziale Verantwortung wahrzunehmen.

Was halten Sie von der Reinkarnation?
Reinkarnation ist ein ganz anderes Basismodell. Es rechnet mit einem unaufhörlichen Zyklus, mit ewiger Wiederkehr. Da hat das Auferstehungsmodell, das ein einmaliges Geschehen und eine universale Neuschöpfung erwartet, keinen Platz.

Doch viele Westler sind von der Wiedergeburt fasziniert.
Sie hoffen, im nächsten Leben nochmals eine Chance zu erhalten. In den älteren Reinkarnationsmodellen, im Osten wie übrigens auch hier im Westen, ist die Wiedergeburt eher ein Schrecken. Man möchte vom Zwang, wieder auf die Welt kommen zu müssen, befreit werden. Gegenüber der heute im Westen beliebten «optimistischen» Variante, bei der es immer wieder neue Lebenschancen gibt, muss man fragen, ob wir das Neu-Anfangen-Können nicht besser schon im Hier und Jetzt realisieren sollten.

Hat Jesus mit seiner Auferstehung gerechnet? Ist die Frage ketzerisch?
Nein, keineswegs. Die Antwort hängt von der Perspektive ab, die man einnimmt. Die neutestamentlichen Texte sagen klar: Jesus weiss, dass er in den Tod geht und dass Gott ihn auferwecken wird. Wenn man jedoch als neuzeitlicher Mensch nach den Erwartungen des historischen Jesus fragt, muss man zurückhaltend sein. Vielleicht hat Jesus erwartet, Gott werde ihn als Märtyrer im Himmel aufnehmen. Äus­sere ich mich aber als Theologe, nicht als Historiker, dann kommt die Tiefe des Karfreitags viel stärker zur Geltung, wenn Jesus in den Tod ging ohne ein sicheres Wissen und ohne Garantie, nach drei Tagen zu auferstehen. Je tiefer der Abgrund der Gottesferne am Karfreitag klafft, je mehr Jesu Ruf «Mein Gott, warum hast du mich verlassen?» gehört wird, umso grösser ist das Auferstehungswunder.

Für viele ist es wichtig, im Jenseits ihre Liebsten zu treffen. Besteht da Hoffnung?
Da fällt mir eine Anekdote ein: Eine Frau hat den Theologen Karl Barth gefragt: Werden wir drüben unsere Liebsten wieder sehen? Karl Barth sieht sie scharf an und erwidert: Ja, aber die anderen auch. Ich selber denke jedoch, dass wir im Sterben umfassend verwandelt werden. Das betrifft auch unsere sozialen Netzwerke.

Droht uns die Hölle? Das Matthäusevangelium spricht von Heulen und Zähneklappern, das die Sünder erwartet.
Es ist sinnvoll, sich dieses Bibelwort nicht als eine kosmische Folterkammer oder als Dauerzustand ewigen Strafleidens vorzustellen, auch wenn ich dies gewissen Menschen manchmal gönnen möchte. Die Hölle kann auch ein kurzer, aber unendlich dichter Moment beim Sterben sein, in dem man erkennt, was man im Leben verpasst und vertan hat. Auf diesen schmerzhaften letzten Moment folgt völliges Erlöschen, nicht endlose Pein.

So erleben wir unsere Hölle?
Wir sehen, wie wir uns selber aus der Liebe Gottes ausgeschlossen haben. Das ist schmerzhaft. Besser ist es, bereits hier und jetzt darauf zu achten, sein Leben nicht zu verpassen und zu vertun.

Nahtoderlebnisse berichten von ähnlichen Erlebnissen. Was halten Sie davon?
Solche Erlebnisse sind zugleich weniger und mehr, als man meint: Weniger, da die Betroffenen die Todesgrenze nicht überschritten
haben; sie bleiben Lebende. Mehr, da sich diese Erfahrungen nicht auf neurologische Überlebensautomatismen reduzieren lassen. Wenn solche Erfahrungen dazu führen, das Leben als ein einmaliges Geschenk zu achten und weniger Angst vor dem Sterben zu haben, ist viel gewonnen.

Die christliche Botschaft besagt, dass das Jenseits im Leben beginnt.
Das Neue Testament sagt so gut wie etwa der Philosoph Platon: Das Jenseits reicht schon in das Diesseits. Zum Leben gehört auch Sterben und Neuwerden, Loslassen und Wieder-Anfangen. Das spielt sogar ganz elementar in jedem neuen Jetzt: Mit jedem Atemzug geben wir etwas auf und empfangen Neues. Das könnte die Basis sein für das Lernen einer umfassenden Lebenskunst.

Sollte man sein Leben stärker aus der Perspektive des Jenseits betrachten?
Christen würden eher sagen: aus der österlichen Perspektive. Das Jenseits besteht dann nicht aus bestimmten Erwartungen, sondern es tut sich auf in der offenen Hinwendung zum lebendigen Gott und seiner Liebe.




Samuel Vollenweider ist Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich.

Interview Tilmann Zuber

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