Das Wunder des Lesens
Meine Enkelin (5 Jahre alt, im ersten Kindergartenjahr) hat sich gerade innerhalb weniger Wochen das Lesen selbst beigebracht. Zu Beginn tönte sie noch ein wenig wie die Beta-Version einer der ersten Vorlesesoftware:
«D-E-R K-L-E-I-N-E B-Ä-R G-E-H-T I-N D-I-E S-C-H-U-L-E.»
Bald konnte sie auch Kleinbuchstaben lesen. Und wurde immer schneller. Inzwischen wirft sie einen Blick auf Buchtitel und sagt: «‹Ella findet eine Katze› – kenn ich schon.» Oder «‹Tom träumt vom Fliegen› – das tönt spannend.» Ich bin gefordert.
Am Dienstag besucht sie uns mit den beiden jüngeren Enkeln. Sie hofft auf – nein, sie erwartet – neuen Lesestoff. Ich schaffe an. Zum Glück gibt es Bibliotheken. Und vor allem am Wochenende Quartierflohmärkte. Da finde ich fast immer etwas (und wenn unser Quartier mit Flohmi dran ist, machen wir einen Stand mit Büchern für das erste Lesealter). Je mehr sie liest, desto anspruchsvoller wird sie. Und was ich in meinem Büro lange offen herumliegen liess, muss ich jetzt abdecken. «Was ist eine leitende Kommission?», «Was ist ein Neffsletter?» (ein Newsletter, zum Glück spricht sie noch nicht fliessend Englisch…).
Selber Lesen zu können ist wichtig. Es schult das Denken. Es bringt Menschen und Geschichten viel tiefer in mein Bewusstsein, als wenn ich es nur höre.
Schreiben ist wie das «Öffnen einer Vene», wie der amerikanische Schriftsteller Frederick Buechner schrieb. Tönt ein wenig martialisch («was heisst martialisch?»). Was er damit meinte, war, dass für ihn nichts so sehr sein Innerstes preisgibt, eine Art Bluttransfusion in die Venen der Leserinnen und Leser. Wer etwas liest, was ein anderer Mensch mit Leidenschaft und aus der Tiefe seines Herzens geschrieben hat, wird in dessen Leben hineingezogen. Leidet mit und freut sich mit, staunt und lernt.
Die Erfindung der Schrift ist eine unglaubliche Leistung der Menschheit. Schrift ermöglicht Zeitreisen und Teleportation. Sie lässt uns Gedanken lesen und Gefühle nachvollziehen. Bücher können uns weiser machen und offen für Neues. Sie können uns lehren, die richtigen Fragen zu stellen. Künstliche Intelligenz überschwemmt uns mit gesammelten Antworten, ohne Gefühle, ohne Leidenschaft. Am Anfang war das Wort. Alpha und Omega und alle anderen Buchstaben schenken uns die Heilige Schrift, das Buch über die Erfahrungen der Menschen mit Gott und die Erfahrungen Gottes mit uns Menschen. Die KI wird das nie verstehen. KI kann nie jemandem Vertrauen schenken – sie braucht das auch nicht.
Meine Enkelin kann jetzt lesen. Welten tun sich auf, das Universum wird neu erschaffen. Und mich bringt sie in Bewegung. Auf meinen Streifzügen durch die Flohmärkte entdecke auch ich ihre Welt neu. Sie steht vor der Tür und lacht mich an. «Hast du ein neues Buch gefunden?»
Martin Dürr
Martin Dürr ist Pfarrer und Co-Leiter des Pfarramts für Industrie und Wirtschaft Basel-Stadt und Baselland.
Das Wunder des Lesens