Den Flüchtenden ein Gesicht geben
Der Museumsgast steht vor einem langen rechteckigen Tisch. Auf der Tischplatte sind Illustrationen von Handys, Schmuck, Familienfotos, Medikamenten, Kleidern und Pass gross abgedruckt. Stempel mit den gleichen Signeten liegen auf dem Tisch. Der Besucher der Ausstellung «Flucht» stellt sich die Frage: Welche vier Gegenstände würde ich auf die Flucht mitnehmen? Die Gegenstände für die man sich entschieden hat, hält man mit den bereitgestellten Stempeln in einem Notizheft fest.
Fluchtgeschichten
Der 32-jährige Aziz Poladi aus Afghanistan nimmt nur das Nötigste mit: sein Handy, eine Mütze und warme Handschuhe. Poladi ist eine fiktive Person. Aber eine mit der typischen Biografie eines Flüchtenden: Ein 32-jähriger Afghane flieht vor den Taliban. Er lebt drei Jahre im Iran, erreicht mit einem Schlepper Istanbul. Dort besteigt er ein Gummiboot nach Griechenland, wo er ein Jahr bleibt. Dann heuert er einen weiteren Schlepper an. Dieser bringt ihn in einem Kühlwagen nach Mailand. Mit dem Zug kommt er in die Schweiz und beantragt im Empfangs- und Verfahrenszentrum in Chiasso Asyl.
Neben der fiktiven Geschichte von Aziz Poladi können sich Besucherinnen und Besucher der Ausstellung «Flucht» auf Spuren vier weiterer Personen machen: Malaika ist eine minderjährige Südsudanesin, die in ein Flüchtlingscamp in Kenia flieht. Der Somalier Abdi Farah wird zum Flüchtling im eigenen Land. Hayat Hamid stammt aus Syrien und flieht in das Nachbarland Libanon und der Syrer Mohammad Abdulla gelangt mit einem Programm des UNHCR legal vom Libanon in die Schweiz.
Fakten und Emotionen
Die Wanderausstellung, die nun im Stadtmuseum Aarau zu sehen ist, gibt Einblicke in die Welt der Flüchtenden. Sie informiert über die Situation in verschiedenen Ländern, wie die Flüchtlingsströme verlaufen oder wie sich die Flucht gestaltet. Auch kommen jene Flüchtlinge zur Sprache, die nicht nach Europa kommen, sondern innerhalb des eigenen Landes vertrieben worden und auf Hilfe angewiesen sind – von den 68 Millionen Menschen, die sich zurzeit auf der Flucht sind, machen sie zwei Drittel aus. «Die Ausstellung soll die Flüchtlingsdiskussion ent-emotionalisieren und eine sorgfältige und achtsame Diskussion über Flüchtende ermöglichen», sagt Kaba Rössler, Leiterin des Stadtmuseums Aarau.
Der Ausstellungsrundgang endet nach verschiedenen Stationen der Flucht in einem fiktiven Empfangs- und Verfahrenszentrum in der Schweiz. Hier erfahren die Museumsgäste, wie das Asylverfahren in der Schweiz funktioniert oder was geschieht, wenn ein Asylverfahren abgelehnt wird. Die Ausstellung lebt von ihrer Interaktivität: Ein von den Flüchtenden verfasstes Notizheft begleitet die Museumsgäste durch die Ausstellung. Fragen regen zum Nachdenken an. Fakten werden auf Bildschirmen vermittelt. Zur Ausstellung wurde eigens Schulmaterial entwickelt. In Schubladen finden die Besucherinnen Gegenstände, die Flüchtende begleitet haben.
Es kann jeden treffen
«Der Mensch steht im Mittelpunkt der Ausstellung», sagt Susanna Graf von der Abteilung Humanitäre Hilfe der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA). «Flucht» ist ein Gemeinschaftsprojekt der Eidgenössischen Migrationskommission, des Staatssekretariats für Migration, des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen und der DEZA. «Die Ausstellung gibt auch einen Gesamtüberblick über das Engagement der Schweiz und zeigt, wo sie überall aktiv ist», sagt Susanna Graf. «Es werden aber auch Themen angesprochen, an die man im Zusammenhang mit der Flucht vielleicht auf Anhieb nicht denkt. Wie etwa die fehlenden Hygieneartikel für menstruierende Frauen, die auf der Flucht sind.»
Eine Videoinstallation von Mano Khalil ist ebenfalls Teil der Ausstellung. Der kurdische Filmemacher flüchtete selbst vor zwanzig Jahren von Syrien in die Schweiz. Drei Jahre lebte er in einem Asylheim im Tessin. Heute besitzt er einen Schweizer Pass und reist mit seinen Filmen um die Welt. «Doch die Erfahrungen und Erinnerungen meiner Flucht trage ich stets bei mir», sagt Mano Khalil.
Seine Videoinstallation beginnt im noch intakten lebendigen Aleppo. Dann folgen Bomben und Zerstörung. Menschen begeben sich auf die Flucht, landen in Flüchtlingslagern. Versuchen die Überfahrt über das Meer nach Europa. «Mit dem Film will ich zeigen, dass jeder von uns zum Flüchtling werden kann», sagt Mano Khalil. «Eine Atomkatastrophe, eine Lawine oder einen Erdrutsch kann auch uns hier in der Schweiz dazu zwingen, dass wir unsere Häuser verlassen müssen und auf Hilfe anderer angewiesen sind.»
Nicola Mohler / reformiert. / 5. April 2017
Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».
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