Den Menschen Raum zum Menschsein bieten
Wenn Ernst-Ulrich Katzenstein erzählt, unterstreicht er dies mit den Händen. Bringt er etwas auf den Punkt, dann senken sich die Finger auf den Tisch, manchmal , als wischten sie etwas weg. Ein andermal als klaubten sie Krümel auf. Dabei bringt er das Geschilderte auf den Punkt: Etwa wenn er über den kirchlichen Journalismus redet und sagt: «Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler », oder von der Kirche fordert, «sie müsste auf die Menschen zugehen und nicht meinen, die Menschen sollten auf sie zukommen». In der Vergangenheit unterstrich Ernst-Ulrich Katzenstein dies meist noch mit seiner Pfeife. Mit solchen Aussagen fand der Pfarrer, Politiker und einstige Chefredaktor des Kirchenboten sein Publikum. «Schnauze mit Herz» nennt dies der Volksmund, in Katzensteins ehemaliger Heimat Berlin.
Ein Stück Kirchengeschichte
Im April feiert Ernst-Ulrich Katzenstein seinen 80. Geburtstag. Wenn er aus seinem Leben erzählt, schildert er ein Stück Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts. Angefangen im 2. Weltkrieg: Die Familie Katzenstein lebt damals in der Mark Brandenburg. Der Vater ist Pastor und Mitglied der Bekennenden Kirche. Die Gestapo besucht seinen Gottesdienst. Wiederholt kommt sie ins Pfarrhaus oder lädt ihn vor zum Verhör. Auf die Nationalsozialisten folgen die DDR-Kommunisten. Der Pfarrerssohn lebt in Ost-Berlin. Er legt sich mit den Funktionären an. Urchristen und Kommunisten wie siehätten doch vieles gemeinsam, sagt eine Lehrerin. «Nein», bringt es Katzenstein auf den Punkt: «Ein Christ sagt: ‹Nimm hin, was mein ist.› Ihr sagt: Gib her, was dein ist.›» Mit solchen Aussagen eckt Katzenstein an. 1954 flüchtet der 18-Jährige nach West- Berlin. Er studiert in Göttingen, Berlin und auf Anraten seines Vaters auch in Basel Theologie. Hier am Rheinknie doziert Karl Barth, einer der hervorragendsten Theologen der Bekennenden Kirche. Nach dem Studium tritt der junge Pfarrer seine erste Stelle im zum Teil noch zerbombten Berlin an. Die Kirchenleitung beauftragt ihn, im neuen Siedlungsgebiet der Gropiusstadt eine Gemeinde aufzubauen und zu gründen. Den Gottesdienst hält Ernst-Ulrich Katzenstein in einer Holzbaracke. Draussen dröhnt der Dieselgenerator, der den Strom liefert. Die Kirche hat Zulauf. An Pfingsten tauft der Pfarrer 29 Kinder. In dieser Zeit lernt Ernst-Ulrich Katzenstein seine spätere Frau Sabine kennen. Seit 49 Jahren sind die beiden verheiratet. Ohne die Unterstützung von Sabine wäre vieles nicht möglich gewesen, erzählt er. 1971 zieht das Paar nach Basel. Er soll in der Überbauung Bäumlihof ein Kirchgemeindezentrum mit aufbauen. Doch das Volk lehnt die Errichtung der Siedlung ab. Stattdessen bleibt er als Pfarrer bis 1989 im Hirzbrunnenquartier. In der reformierten Kirche herrscht Aufbruchsstimmung. Die Ökumene wird selbstverständlich. Die Gottesdienste sind gut besucht. Katzenstein tauft, konfirmiert, verheiratet und beerdigt. Etwa 3200 Abdankungen, ca. 700 Taufen, über 900 junge Menschen im Konfirmationsunterrricht und ungefähr 550 Trauungen zählt er in seiner Basler Zeit. Manchmal finden drei Hochzeiten an einem Samstag statt. Oft arbeitet Katzenstein die Nacht durch. Zwischen den Predigtvorbereitungen hält er inne und trinkt einen Tee, manchmal auch ein Glas Wein. «Jede Feier sollte persönlich sein, das war mir wichtig, also auch eine entsprechend ausgerichtete Ansprache», meint er.
Grossratspräsident und Chefredaktor
In den 90er-Jahren vertritt Katzenstein die Demokratisch-Soziale Partei im Grossen Rat. Von 2002 bis 2003 ist er Grossratspräsident des Kantons Basel-Stadt, in den folgenden sechs Jahren Bürgergemeinderat. Seit 1974 arbeitet Ernst-Ulrich Katzenstein in der Redaktion des Kirchenboten. 1989 wird er Chefredaktor. Wieder nimmt er pointiert Stellung, diesmal in den Kommentaren. Es ist die Zeit, in der sich gesellschaftliche Schranken aufweichen. In der Zeitung diskutiert man über «Konkubinat und Kirche». Er schreibt gegen die Holocaust- Leugner an. Erboste Leserbriefe gehen in der Redaktion ein. Doch Katzenstein hält seinen Kurs, will Anstoss und Anregung sein: «Eine pointierte Meinungsäusserung darf nicht bequem sein, sie muss bewegen, ohne zu verletzen.» Seit 2001 ist Ernst-Ulrich Katzenstein pensioniert. Gemeinsam mit seiner Frau lebt er im Kleinbasel. Das Multireligiöse hat die Familie eingeholt. Die fünf Kinder seien mit Juden, Katholiken, Freikirchlern und Konfessionslosen verheiratet, sagt Katzenstein und schmunzelt. Der Pfarrer schätzt diese Offenheit, auch im Bezug auf die Kirche: «Die Kirche muss den Raum bieten, in dem die Menschen die Möglichkeit haben, Menschen zu sein und zu werden», das war sein Ziel. Es bleibt für ihn Hoffnung und Überzeugung.
Tilmann Zuber, 9. März 2016
Den Menschen Raum zum Menschsein bieten