«Den Opfer-Typ gibt es nicht»
Das Thema scheint akut: «13-Jährige auf Schulweg verprügelt», «Sie urinierten meinem Sohn auf die Turnkleider», «Mobbing-Opfer wehren sich mit Todesdrohungen» – Gewalt in der Schule macht regelmässig Schlagzeilen in den Medien, mit steigender Tendenz. «Die sozialen Medien wirken wie ein Brandbeschleuniger», erklärte Urs Urech, Trainer für Gewalt- und Rassismusprävention der Stiftung für Toleranz. «Die Anonymität senkt die Hemmschwelle.»
Es geht um Macht
Eine Podiumsdiskussion in Reinach ging dem Phänomen Mobbing nach. Eingeladen hatten unter anderem die Kirchgemeinde Reinach sowie die Fachstelle für Genderfragen und Erwachsenenbildung der Reformierten Kirche Baselland. Die Fachleute waren sich einig, dass es beim Mobbing um Macht geht. «Indem der Mobber sein Opfer niedermacht, will er sich aufbauen», erklärte Jugendarbeiter Oliver Widmer. Mit der Zeit übernähmen die Kinder und Jugendlichen die Opferrolle, sie verinnerlichen diese und verlieren ihr Selbstvertrauen. «Sie sitzen in der Pause alleine auf der Bank und wagen es nicht, mit anderen Kontakt aufzunehmen», so Widmer. Für betroffene Kinder und Jugendliche sei es schwierig, aus dem Teufelskreis der Drangsalierung auszubrechen. Es brauche Hilfe von aussen.
Deshalb forderten die Experten Lehrpersonen, Schulleitungen und Eltern dazu auf, so rasch wie möglich einzugreifen. Oftmals sähen die Schulen zu lange weg. Sie blendeten aus, dass der Schulweg für die Kinder einem Spiessrutenlauf gleicht. Die Erfahrung zeigt: Viele Mobbingfälle ziehen sich über Jahre und Klassen hinweg. Lehrpersonen und Sozialarbeiter müssten wachsam sein, damit sie die Ursachen ausmachen und angehen können, so die Fachleute. Meist seien es in einer Klasse zwei, drei Jugendliche, die den Ton angeben, andere beschimpfen, bedrohen und verprügeln. «Wenn Ihr Kind plötzlich nicht mehr gerne in die Schule geht, über Bauchweh klagt, ist es höchste Zeit, nachzufragen und die Lehrer zu informieren. Geschieht nichts, sollte man sich an die Schulleitung wenden», rät Urs Urech. Manchmal möchte der Sohn oder die Tochter nicht, dass die Eltern etwas unternehmen. Urech: «Dann zeigen die Signale rot, das Kind steht unter starkem Druck und die Eltern sollten dringend die Lehrer kontaktieren.»
Die schweigende Mehrheit
Die Gemobbten selbst treffe keine Schuld, sagte Mirjam Strub, Kinder- und Jugendbeauftragte der Gemeinde Reinach: «Die Gruppendynamik kann jeden treffen, den Opfer-Typ gibt es nicht.» Die entscheidende Rolle spiele die schweigende Mehrheit, die nicht eingreift. Diese müsse man zum Handeln bringen. Deshalb arbeitet Urs Urech mit der ganzen Klasse. Er versucht die Strukturen aufzubrechen und die Täter in die Verantwortung zu nehmen.
Moderator Matthias Zehnder erinnerte dies an ein Zitat von Erich Kästner, der im Hinblick auf den Naziterror schrieb: «Es sind nicht nur jene am Unfug schuld, die ihn begehen, sondern die, die ihn nicht verhindern.» Urech rät den Eltern, ihre Kinder ernst zu nehmen, ihnen zuzuhören, damit sie nicht abermals zum Opfer werden: «Es macht keinen Sinn, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum es ausgerechnet meinen Sohn oder meine Tochter trifft.»
Tilmann Zuber, November 2019
«Den Opfer-Typ gibt es nicht»