«Der Aufruf Jesu zur Nächstenliebe ist etwas vom Aktuellsten, was es gibt»
Franz Hohler, haben Sie sich für das Jahr 2025 etwas vorgenommen?
Ja, in der Tat. Ich nehme mir oft eine Jahresdisziplin vor. Letztes Jahr lernte ich jede Woche ein Gedicht auswendig. Dieses Jahr will ich jede Woche einen Traum aufschreiben. Ich träume sehr viel und schreibe das morgens oft in Stichworten auf. Ansonsten nehme ich mir vor, möglichst achtsam zu sein und mich am Leben zu erfreuen. Und dann natürlich aufzuräumen. Nur das gelingt mir nicht so gut.
Sie sind 81 Jahre alt. Verändert sich im Alter der Blick auf das Leben?
Ja, die Sicht auf die Welt verändert sich, weil sich die Welt verändert. Wir haben in den letzten Jahren viele Überraschungen erlebt, von der Pandemie bis zum Wiederaufleben des ältesten Schreckgespenstes der Menschheit, des Krieges, in der Ukraine, in Israel, in Gaza oder in Syrien. Wir hatten vergeblich gehofft, man könne Lösungen ohne Waffen finden.
Was macht das mit Ihnen?
Man fühlt sich hilflos, weil man in den Kriegsgebieten nicht helfen kann. Ich habe vor Jahren ein Buch mit 90 Kindergeschichten herausgegeben, das auch ins Ukrainische übersetzt wurde. Als die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine ankamen, habe ich hundert Exemplare drucken lassen und sie den Lehrern und Lehrerinnen, die ukrainische Kinder unterrichten, zur Verfügung gestellt.
Sie haben gesagt, Humor sei eine Haltung, die den Ernst sabotiere. Brauchen wir mehr Humor in diesen Zeiten?
Humor ist wichtig, auch im Umgang mit dem Tragischen. Er kann die Realität und vor allem den Schrecken sabotieren. Humor ist eine Form der Trauerarbeit. Es gibt viele Witze über den Krieg, um dem Schrecken etwas entgegenzusetzen. Die Frage ist: Kann man an der Front, wo es um Leben und Tod geht, noch Humor mobilisieren?
Stichwort Humor: Im Buch «Der Autostopper» erzählen Sie, wie der Teufel und Jesus nach Rom fahren, um den Papst zu erschrecken. Müsste man die Kirchen erschrecken?
Die Kirchen erschrecken schon ob der vielen Kirchenaustritte. Kirchen sind auf Beständigkeit und Beharrlichkeit angelegt. Aber das darf nicht zu Erstarrung und Reformunfähigkeit führen. Fortschrittliche Frauen und Männer erwarten bei jedem Papst, dass es vorangeht mit der Frauenordination und der Abschaffung des unsäglichen Zölibats. Doch keiner der Päpste hat diese Erwartungen erfüllt. Der Vatikan bleibt ein Gremium konservativer alter Männer.
Sie haben in einem Interview gesagt, Sie seien religiös, aber nicht gläubig.
Religiös zu sein, bedeutet, sich mit einer höheren Macht verbunden zu fühlen, die man nicht begreifen kann. Es ist ein Bedürfnis nach Spiritualität, es führt zum Nachdenken darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält. Oder zum Staunen über das Wunder und das Geheimnis der Natur, die sich selbst im Gleichgewicht hält, wenn wir sie nicht stören. Gläubige hingegen übernehmen und praktizieren die angebotenen Denkmuster ihrer Religion. Letztlich schreibt der Mensch alles, was er nicht versteht, einem Gott zu, der alles geschaffen und eingerichtet hat. Das ist in allen Religionen so.
Das überzeugt Sie nicht?
Ich teile das Bedürfnis nach Spiritualität, aber ich bin nicht gläubig im christlichen Sinne. Es ist mir nicht wichtig, ob Jesus Gottes Sohn ist oder nicht. Jedes Kind ist Gottes Sohn. Und ich glaube nicht an das komplizierte Konstrukt, dass Gott seinen Sohn schickt und ihn durch die Menschen töten lässt, damit er ihre Sünden wegnimmt. Ich bin aber nicht aus der Kirche ausgetreten, weil ich finde, dass die Kirche durchaus ihre Berechtigung und Funktion hat, solange sie nicht fordernd auftritt und mit der Hölle droht. Solchen Zwang lehne ich völlig ab. Der Aufruf Jesu zur Nächstenliebe ist etwas vom Aktuellsten, was es gibt. Wenn die Kirche dies vertritt und dazu aufruft, Menschen in Not zu helfen, dann ist das ein Grund, nicht auszutreten.
Was würden Sie Jesus fragen, wenn Sie ihn treffen würden?
Ich würde ihn fragen, ob er dieser Welt nicht helfen könne. Das Alte Testament erwartet, dass Gott stark ist und in das Weltgeschehen eingreift. Die Hoffnung, dass ein Gott die Welt zum Wohl der Menschen eingerichtet hat, ist in allen Religionen da. Doch die Realität zeigt etwas anderes.
Sie greifen in Ihren Büchern oft biblische Motive auf. Wie wichtig ist es, dass Kinder biblische Geschichten kennen?
Ich finde es wichtig, weil diese Geschichten ein Teil unserer Herkunft und unserer Kultur sind. Die Schwierigkeit besteht darin, sie so zu erzählen, dass sie nicht mit der Forderung verbunden sind, geglaubt zu werden.
Heute wachsen die Kinder in einer digitalen Welt auf. Gefährdet das die Fantasie der Kinder?
Das befürchtete man auch beim Aufkommen des Films und des Fernsehens. Auch damals gab es die Befürchtung, dass die Fantasie der Kinder verkümmern könnte, wenn man ihnen Bilder präsentiert. Jedes neue Medium erfordert einen neuen Umgang damit. Es gefährdet nicht per se die Fantasie. Die digitale Welt erzählt ebenfalls Geschichten, nur anders.
Aber Kinder und Jugendliche lesen heute weniger.
Ja, aber viele Jüngere entdecken gerade wieder die Freude am Lesen. Ich bekomme viele Reaktionen auf meine Kindergedichte, die zum Reimen und zum kreativen Denken einladen. Ich habe zwei Bücher mit Versen geschrieben, die zum Dichten animieren, zum Beispiel durch den Vers «Es war einmal ...».
Wie meinen Sie das?
Zum Beispiel mit Versen wie: «Es war einmal ein Dachs / der ass am liebsten Lachs / doch gab es das fast nie / da sprach er: ‹Irgendwie / ist’s ohne Lachs fast schöner› / Jetzt ass er nur noch Döner.» Der einfache Anfang «Es war einmal ...» regt zur Nachahmung an. Kinder schicken mir Verse, über die ich nur staunen kann. Man sollte nicht gleich alles ablehnen, was neu ist. In meiner Jugend sprach man von Schundliteratur und meinte damit Globi oder Micky Maus. Als Kind habe ich Globi und Micky Maus geliebt.
Wie sieht es bei Ihnen mit den sozialen Medien aus?
Dazu ein Erlebnis: Bei einem Schulbesuch in Deutschland fragte mich ein Achtjähriger, ob es meine Geschichten auch auf Tiktok gäbe. Ich habe Nein gesagt und ihn gefragt: «Meinst du, ich sollte auf Tiktok gehen?» – «Ja», sagte der Achtjährige, «dann hätten Sie viel mehr Follower.»
Was würden Sie Eltern heute im Umgang mit ihren Kindern raten?
Sie sollten überlegen, was sie von den Kindern lernen können, und nicht nur, was sie den Kindern beibringen. Kinder eröffnen neue Perspektiven und zeigen, was wichtig ist. Der Dichter Friedrich Rückert hat gesagt: «Du lernst von deinen Kindern mehr als sie von dir. Sie lernen eine Welt von dir, die nicht mehr ist, du lernst von ihnen eine, die nun wird und gilt.»
Ich bin auf eines Ihrer Gedichte über den Tod gestossen. Es hiess: «Warte nur / eines Tages / nimmt der Tod die Sonnenbrille ab / und schaut dich an.» Da zuckt man zusammen.
Ich denke seit meiner Jugend über den Tod nach und freue mich, dass er noch nicht da ist. Das Interessante ist: Je älter man wird, desto unwahrscheinlicher wird der Tod. Denn letztlich kann man sich den Tod nicht vorstellen. Auch nicht, wie es ist, wenn man seine Partnerin verliert und mit ihr all die eingespielten geliebten Rituale wie das Zmorgekafi oder den Schluck Wein am Abend. Wie es ist, wenn der andere Stuhl leer bleibt. Aber man sollte den Tod als Ratgeber nehmen und sich fragen, was man noch tun würde, wenn man wüsste, dass man in der nächsten Woche stürbe.
Sie können auf ein reiches Leben zurückblicken. Was ist das Geheimnis zu einem glücklichen Leben?
Versuchen, so weit wie möglich sich selbst zu bleiben. Das ist alles, was mir einfällt.
«Der Aufruf Jesu zur Nächstenliebe ist etwas vom Aktuellsten, was es gibt»