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Alfred Bodenheimer, Literaturwissenschaftler

Der Frieden, das sind wir selber

von Alfred Bodenheimer
min
14.12.2024
Alfred Bodenheimer ist Professor für jüdische Literatur- und Religionsgeschichte an der Universität Basel. Sein Leben spielt sich zwischen der Schweiz und Israel ab. Vom Versuch, in einer kriegerischen Zeit Frieden zu finden.

In den 1970er-Jahren, als ich ein Kind war, schenkten mir meine Eltern ein Kinderlexikon mit dem Titel «Erklär mir die Welt». Jeweils auf einer bis zwei Doppelseiten wurden wichtige Themenkomplexe wie Arbeit, Geld, Verkehr und vieles andere reich bebildert abgehandelt. Ein solcher Themenkomplex hiess auch «Krieg», und ich erinnere mich bis heute, zumindest sinngemäss, an den Wortlaut, mit dem in diesem Kapitel das Stichwort «Frieden» behandelt wurde. «Frieden ist die Zeit zwischen den Kriegen, in der sich die Menschen erholen und das Zerstörte wieder aufbauen können.»

Sosehr ich dieses Buch liebte, so sehr empörte ich mich gegen diesen Satz. Frieden, das war doch der Normalzustand! Natürlich wusste ich, dass es Krieg gab, ich hatte Verwandte in Israel, und den Jom-Kippur-Krieg von 1973, als für kurze Zeit Israels Existenz auf dem Spiel zu stehen schien, hatte ich als Achtjähriger mitbekommen. Dennoch, solche Ereignisse sah ich als Ausreisser, die man rasch beilegen konnte und musste, um den Normalzustand wiederherzustellen. Der Teil der Welt, in dem ich eine Generation nach Ende des Zweiten Weltkriegs lebte, schien vom Krieg jedenfalls weit getrennt, räumlich und zeitlich.Dass der Frieden, den ich selbst in der Schweiz genoss, auf dem beruhte, was man das «Gleichgewicht des Schreckens» zwischen zwei Blöcken nannte, begann ich erst später zu verstehen.

Plötzlich also ist der Frieden, den wir bei uns selbst fast als Naturgesetz betrachteten, zu einem wertvollen, gefährdeten Gut geworden.

Heute, so scheint es, wären wir fast schon froh, um ein solches Gleichgewicht des Schreckens, denn jetzt, nachdem dieser Schrecken (mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion) eine Generation lang vorbei zu sein schien, fürchtet sich Europa mehr als zu jener Zeit, in kriegerische Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Und während in den Tagen meiner Jugend die Massen gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Stationierung amerikanischer Raketen auf westeuropäischem Boden demonstrierten, fürchten gerade derzeit viele nichts so sehr wie einen Rückzug der USA aus Westeuropa.

Plötzlich also ist der Frieden, den wir uns immer für die Welt gewünscht haben, aber bei uns selbst fast als Naturgesetz betrachteten, zu einem wertvollen, gefährdeten Gut geworden. Und dies betrifft nicht allein den äusseren Frieden. Europa als Ganzes wird heute auch von inneren Krämpfen durchgeschüttelt. Rechts- wie Linksextremismus erheben allenthalben ihr Haupt, Islamismus spornt bei weitem nicht mehr nur Einzelne dazu an, Gewalt zu verherrlichen und gar nicht so selten auch auszuüben, wachsende Teile der Bevölkerung fühlen sich nicht mehr wirklich sicher.

Einer der Gradmesser für die Verwahrlosung der Gesellschaft ist das offene Ausleben des Judenhasses. Ich kann es aus eigener Erfahrung sagen. Trug ich seit meiner Kindheit auf der Strasse durchgehend überall auf der Welt die Kippa, so tue ich das heute (anders als früher) nur noch in der Schweiz und auch dort nicht immer ohne flaues Gefühl im Magen. Die Selbstverständlichkeit der Akzeptanz, die mich ein Leben lang begleitet hat, ist weg.

Wie die Weltlage sich entwickelt, mag ausserhalb unseres Wirkungsbereichs liegen. Ob wir allerdings gesellschaftlichen Frieden und ein Gefühl des Schutzes für alle Menschen, die einfach nur unbehelligt ihr Leben führen wollen, gewährleisten können, hängt von uns allen ab. Indem wir eingreifen, wenn Unrecht geschieht, zeigen wir Grenzen auf. Wegschauen fällt so viel leichter, und die Konsequenzen wiegen so viel schwerer. Wem wir heute die Macht überlassen, zu definieren, wem Gewalt angetan werden darf, der wird die Grenzen täglich weiter verschieben. Der innere Frieden, das sind wir selber.

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