Baselland, Basel-Stadt, Luzern, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Uri, Zug

Der Nationalheilige als der grosse Mystiker

min
16.03.2017
Im April feiert die Schweiz 600 Jahre Niklaus von Flüe und würdigt den Nationalheiligen als Staatsmann und Eremiten. Dabei geht vergessen, dass er ein Visionär war. Seine Erscheinungen waren die Quellen seines Wandels, meint Pfarrer und Autor Christoph Hürlimann.

Herr Hürlimann, der Psychiater C.G. Jung bezeichnete Niklaus von Flüe als den grössten Mystiker der Schweiz – zu Recht?
Mystiker lassen sich schwer im Sinne der Grösse bewerten. Es kommt dazu, dass sich Niklaus nicht leicht einer Schule zuordnen lässt, was ihn vergleichbar machen würde. Er war aber ohne Zweifel «transparent» für aussergewöhnliche Botschaften aus der Tiefe.

Der Nationalheilige konnte weder lesen noch schreiben. Erfuhr er seinen Glauben durch seine Bilder und Visionen?
Nicht nur. Niklaus hatte verschiedene Kontakte. Über wichtige Lebensphasen hinweg begleitete ihn der Geistliche Heimo am Grund. Klausens bekanntes Betrachtungsbild zeigt, dass er die biblische Botschaft kannte. Anderes theologisches Wissen vermittelte ihm Bruder Ulrich, ein Einsiedler, der in der Nähe wohnte. Tägliche Nahrung gaben ihm sein Gebet und vor allem die Feier der Eucharistie. Niklaus suchte beharrlich nach der Gestalt seines Glaubens. In seiner Depression betrachtete er die Fresken vom Leiden Christi in St. Niklausen. Die eigenen Visionen stammen aber aus einem tieferen Grund. Jung würde vom Unbewussten sprechen.

Wie kann man sich das vorstellen?
Wo es sich um Erfahrungen handelt, die aus anderen Bereichen stammen, würde die Tiefenpsychologie als Quelle das kollektive Unbewusste nennen. Das wird darin deutlich, dass uns hier auch Bilder begegnen, die den Rahmen der biblisch-christlichen Religion sprengen. Es handelt sich wohl um einen tieferen Strom, der die Menschen verbindet.

War dieser Strom die Stimme Gottes?
In seinem Gedicht «Gott» nennt der Schriftsteller Gottfried Keller Gott ein grosses stilles Haus. Nur wer hineingeht, erfährt etwas über dieses Haus. Niklaus von Flüe war einer, der hineinging, vielleicht eher hineingeführt wurde. Ob wir in diesen Visionen Gottes Stimme begegnen, ist eine Frage des Glaubens. Es gibt Bilder von besonderer Dichte – den Greis, den er in der Vision von seiner Taufe erkennt; das Seil, das Mystiker oft als eine Kraft erkennen, die sie zum Ziel ihres Weges zieht; den Lichtstrahl, der ihn in Liestal trifft; die rote Farbe, die Liestal erfüllt. Bei diesen «dichten» Bildern würde C.G. Jung von Archetypen sprechen. Tiefenpsychologisch stellt sich die Frage, ob es eine kollektive Stimme des Unbewussten gibt. Niklaus «hörte» in diesen Bildern Gottes Stimme. Der heilige Geist hatte ihn in das «grosse stille Haus» geführt.

Welches ist für Sie die eindrücklichste Vision?
Jedenfalls die, die einen tiefen Blick in sein Leben gewährt: Niklaus sitzt am Rande einer Wiese, auf der seine Tiere vorbeiziehen. Er verweilt in tiefer Andacht. Während seines Gebets wächst eine Lilie aus seinem Mund zum Himmel. Die Lilie ist ein Symbol der Dreieinigkeit, der Gegenwart des lebendigen Gottes. Nun kommen seine Tiere vorbei. Sein Blick, der auf der Lilie ruhte, fällt auf ein besonders schönes Pferd. Da neigt sich die Lilie und das Pferd verschlingt sie. Diese Vision ist für mich wie ein Spiegel: Was ist bei mir stärker – die Hingabe an Gott oder meine täglichen Geschäfte?

Ein unüberbrückbarer Konflikt?
Ja. Die Vision von der Lilie und vom Pferd zeigt eine innere Spannung. Kierkegaard spricht vom «Sprung» des Glaubens: Hier wäre es der Sprung von der Bindung an die Welt zur Freiheit, die mir in Gottes Armen geschenkt wird. Dieser Sprung, wo er möglich wird, ist Gnade. Dem Sprung zur Seite steht auf meinem Weg freilich das Seil: Der «Zug» zu Gott, der mich immer wieder ergreift und nicht im Stich lässt.

Was sagen diese Visionen uns Reformierten, die gerne etwas kopflastig sind?
Halten wir zuerst fest: Auch Niklaus von Flüe gab sich nicht einfach Gefühlen hin. Im Betrachtungsbild erhält er die Nahrung der biblischen Botschaft. Ebenso erinnern ihn die Medaillons an die Werke der Barmherzigkeit. So erhält sein Glaube eine Ausrichtung. In der Mystik, auf einem mystischen Weg, öffnen wir uns dafür, dass Licht in diese Ausrichtung fliesst. So entsteht eine Haltung der «disponibilité»: Wir werden dafür verfügbar, dass sich Gottes Zuneigung zu lebendigen Erfahrungen und Bildern verdichtet.

Tilmann Zuber / Kirchenbote / 16. März 2017

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Unsere Empfehlungen

Wenn der Glaube einem die Schuhe auszieht

Wenn der Glaube einem die Schuhe auszieht

Die Passionszeit ist traditionell die Zeit des Fastens und der Meditation. Der Journalist Stefan Degen hat «ein Sitzen in der Stille» in einer Kirche besucht und festgestellt, wie frei die Gedanken schweifen. Bericht eines Selbstversuchs.