«Der Sonntagsgottesdienst ist nach wie vor das Herz der Kirche»
Ich treffe Vroni Stähli (VS) und Hans-Jörg Riwar (HR) zum Gespräch. Beide stehen kurz vor ihrer Pensionierung. Sie blicken zurück auf ihre Zeit in ihrer Gemeinde, diskutieren darüber, wie sich die Kirche in all den Jahren verändert hat und was ein guter Gottesdienst ausmacht.
VS: Die Kirche hat sich in den letzten 30 Jahren sehr stark verändert. Auch die Wichtigkeit von uns Pfarrpersonen hat abgenommen. Diesen Bedeutungsverlust müssen wir aushalten und das tun, was wir können.
HR: Ja, die Kirche hat in der Gesellschaft massiv an Bedeutung verloren. Es hat schon länger gebröckelt, aber mit Corona kam der Brienzer Bergsturz. Das sieht man gut an unseren Gottesdiensten. Vor Corona hatten wir eine recht grosse Gemeinde, die sich am Sonntag versammelte. Während und nach Corona sind die Besucherzahlen eingebrochen.
VS: Es ist mir ein Anliegen, dass derjenige, der die Kirchensteuer treu bezahlt, mindestens einmal im Jahr einen Gottesdienst besuchen sollte. Dann wäre auch das Feiern schöner. Ein Gottesdienst ist fast wie ein Eishockeyspiel: Mit zwei oder drei ist es nicht lustig.
HR: Die Kirche hat diverse Gemeinschaften, die nicht mehr an Gottesdienste gebunden sind. Trotzdem finde ich nach wie vor, dass der Sonntagsgottesdienst das Herz der Kirche ist. Da erlebt man, um was es eigentlich geht. Der Gottesdienst wird von einer kleineren Gruppe besucht, trotzdem müssen wir das Gewicht und alle Sorgfalt darauf legen.
VS: Da stimme ich dir ganz klar zu. Wenn das Kernstück mit dem Gebet, dem Singen, dem Auf-das-Wort-Hören und Sich-Gedanken-Machen, nichts mehr wert ist, dann können wir den Laden dichtmachen.
HR: Für viele sind die leeren Kirchenbänke zum Lachen, wir werden als armselige Gestalt bezeichnet. Aber diese Gestalt ist das Herzstück des Evangeliums. Dort liegen Freude und Kraft.
Entstehen einer Gemeinschaft
VS: Für mich ist ein Gottesdienst schön, wenn etwas in der Gemeinschaft entsteht. Wenn ein Lied anfängt zu klingen, wenn eine Predigt gelingt, wenn die Besuchenden für sich etwas mit nach Hause nehmen. Es gibt Momente, in denen mich meine eigenen Worte berühren.
HR: Sehen Sie, es ist Zeit, dass Vroni pensioniert wird, wenn sie ob ihrer eigenen Worte anfängt zu heulen. (Lacht herzhaft, Vroni Stähli fällt ins Lachen mit ein). Kirche sollte ein Stück Heimat sein. Und die Predigt eine beglückende Erfahrung.
VS: Wir haben es schon gut «breicht» mit unserer Zeit im Pfarramt. Der Druck nimmt zu, viele Kolleginnen und Kollegen sind gefährdet, ins Burn-out zu fallen. Ich bin froh, dass ich für die Landeskirche arbeiten konnte, das sehe ich als grosses Privileg.
HR: Würdest du heute nochmals Pfarrerin werden wollen? Ich auf jeden Fall. Allerdings könnte ich es heute nicht mehr so machen wie damals. Ich hatte sehr viel Freiraum, der Druck ist heute viel grösser. Die Gesellschaft will konsumieren und ihre Bedürfnisse subito erfüllt haben. Diese Erwartungshaltung ist auch gegenüber der Kirche zu spüren. Heute bewegen wir uns in einem kompetitiven Umfeld. Was früher uns gehörte – Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen –, müssen wir heute bewerben und mit Ritualbegleiterinnen und Beratenden um die Aufträge buhlen.
VS: Für mich ist Pfarrerin trotzdem nach wie vor der schönste Beruf. Man muss die Menschen gernhaben.
VS: Was ich unbedingt noch loswerden will: Kirche muss über die Familie hinausgehen. So, dass auch Menschen getragen werden, die vielleicht keine Familie mehr haben.
«Kirchenbote»: Wie wird Ihr Leben nach der Pensionierung aussehen?
HR: Meine bevorstehende Pensionierung hat etwas Beängstigendes und Verunsicherndes. Die Rolle, in der ich mehrere Jahrzehnte war, bricht weg. Da fragt man sich schon, was bleibt. Aber ich freue mich auf mehr Zeit für mich. Im Brief des Paulus an die Philipper steht: «Freuet euch im Herrn und lasset alle Menschen eure Freundlichkeit spüren.» Ich spreche gerne einfach fremde Leute an, wenn es die Situation erlaubt. Im Restaurant oder im Bus. Ohne etwas von ihnen zu wollen. Wir brauchen mehr freundlichen Umgang miteinander.
VS: Auch für mich ist der Abschied nicht ganz einfach. Bekannte Strukturen fallen weg. Ich bleibe in Baar wohnen und werde sicher den Gottesdienst hin und wieder besuchen. Und hoffe, dass ich die «Pfarrerskrankheit» ablegen kann und nicht immer denke, das hätte ich anders gemacht (grinst). Ich kann mir vorstellen, mich freiwillig zu engagieren. Wann, wie, was und wo ist offen. Es wird sich bestimmt etwas ergeben, was mir Freude bereitet und ein bisschen nützlich ist.
«Der Sonntagsgottesdienst ist nach wie vor das Herz der Kirche»