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«Der Sündenfall ist eigentlich ein Schamfall»

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03.03.2016
Daniel Hell ist renommierter Spezialist für Depressionen. Im Interview erklärt er, woher seine Offenheit für Religion stammt, was Psychiater und Seelsorger verbindet und warum man hat heute besser von Scham als von Schuld spricht. Hell predigt am Sonntag im Grossmünster.

Herr Hell, woher stammt Ihr Flair für Religion?
Ich bin in einem Pfarrhaus aufgewachsen, mein Vater war methodistischer Pfarrer, am Schluss war er auch für die reformierten Landeskirchen tätig. Das Christentum ist mein kulturelles Erbe, und bei allen Zweifeln, die ich auch kenne, bin ich sehr dankbar dafür.

Sie hätten das Erbe auch ausschlagen können.
Viele Pfarrerskinder, die ich kenne, haben sich ganz anders entwickelt. Mich hat das Interesse an religiösen Fragen aber nie losgelassen. Mein Vater hat die Religion glaubwürdig vertreten – ein soziales und offenes Christentum. Und er war mir gegenüber sehr tolerant.

Was fehlte, wenn es keine Religion gäbe?
Man überschätzte sich noch mehr, als man es sowieso tut. Der Mensch machte sich noch mehr zu Gott. Das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein, würde schwächer werden, die Sicht auf den Menschen eindimensionaler und farbloser, weil eine wichtige Perspektive auf den Menschen fehlte.

Welche Perspektive?
Die ist von Religion zu Religion verschieden. Im Christentum wäre es die Perspektive des Geschaffenseins, des Kreatürlichen, aber auch, dass man als Person Würde hat und angenommen ist.

Spielt Angenommensein auch in der Psychiatrie eine Rolle?
Ja, die Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten – und damit das Angenommenwerden – ist das wichtigste Element in der Behandlung vieler psychischen Störungen. Dazu gibt es zahlreiche empirische Befunde.

Das klingt in der Tat christlich.
Seelsorger und Psychiater stimmen in vielem überein. Zum Beispiel wie wichtig es ist, im Verständnis des anderen aufgehoben zu sein. Der Seelsorger hat aber einen anderen Zugang als der Psychiater. In der Psychiatrie fehlt das Mehr, die vertikale Perspektive, die auf Gott zielt. In der Psychiatrie kann man nicht mit Gott operieren. Ich finde die Instrumentalisierung von Gott überhaupt gefährlich.

Sie sind ein Verteidiger der Seele. Ist die Seele in Bedrängnis?
Ja. Die Seele ist vor allem in den Wissenschaften obsolet geworden. Dabei ist der Begriff unglaublich reich und kann nicht ohne Verlust übergangen oder ersetzt werden. Er steht für das innere Erleben. Wenn man nur von aussen schaut, werden Sie keine Seele finden. Aber auch psychiatrische Untersuchungen des Gehirns müssen vom seelischen Erleben, von den Gefühlen und Gedanken des Patienten, ausgehen. Nur was der Patient von seinem Erleben mitteilt, kann nachher mit neurowissenschaftlichen Befunden korreliert werden.

Sie haben geschrieben, Therapeuten sollen den Patienten keine unbegründete Hoffnung machen, das sei billiger Trost. Erleben Sie auch Pfarrer, die der Gemeinde unbegründet und vorschnell Hoffnung machen?
Die mag es geben. Es gibt auch die, die zu wenig Hoffnung machen. Ich behandle mitunter ja auch Pfarrpersonen.

Sind Pfarrpersonen anfälliger für Depressionen?
Die sozial tätigen Menschen haben alle ein etwas höheres Risiko.

Untersuchungen zeigen, dass eine «adäquate Religiosität» vor einer Depression schützen kann.
Richtig. Religiöse Menschen haben statistisch gesehen etwas weniger Depressionen als nicht-religiöse. Aber dabei gilt es auch soziale Einflüsse zu berücksichtigen: Wer sozial besser eingebunden ist, erkrankt seltener an Depressionen. Gemeinschaften wie Kirchen tragen Menschen in Not besser durch als anonyme Gesellschaften.

Man muss gar nicht gläubig sein, sondern einfach mitmachen?
Nein. Wenn man einfach mitmacht, ist das weniger hilfreich. Es gibt auch einen intrinsischen Faktor. Wer Vertrauen in Gott hat und religiöses Traditionsgut kennt, ist besser geschützt vor leichten bis mittelschweren Depressionen. Eine schwere Depression kann aber das Vertrauen und den Glauben erschüttern.

Und umgekehrt? Kann Religion eine Depression auch begünstigen?
Ja. Es hängt zum einen von der Gottesvorstellung ab. Ein strafender Gott kann eine depressive Belastung noch verstärken und mehr Angst machen. Zum anderen kann eine bestimmte religiöse Einstellung auch belasten. Zum Beispiel wenn jemand denkt, ein Christenmensch müsse immer fröhlich und guten Mutes sein. Aber das Christentum behauptet ja nicht, dass wir auf der Erde kein Jammertal kennen, im Gegenteil.

Theologen reden oft von Schuld. Sie haben gesagt, heute habe die Scham die Schuld abgelöst. Wie meinen Sie das?
Ich sage es nicht so absolut. Vor 40 Jahren haben sich mehr Menschen schuldig gefühlt und depressive Menschen haben sich häufiger Schuldvorwürfe gemacht als heute. Tendenziell haben heute Menschen mehr Mühe mit ihrem Selbstbild, zum Beispiel wenn sie scheitern und eigene Erwartungen enttäuscht werden.

Der Selbstwert spielt eine immer grössere Rolle?
Ja. Und er löst Schamgefühle aus. Sie sind ein Sensor für die Differenz von dem, was man von sich selbst erwartet und was von aussen zurückkommt. Früher warf sich ein Mensch vielleicht eher vor, dass er etwas Falsches getan hat. Heute hat sich das verschoben, wir sind eine Casting-Gesellschaft geworden.

Eine Casting-Gesellschaft?
Man muss sich präsentieren, ein Selbstdarsteller sein, einen guten Selbstwert haben. Und genau das funktioniert nicht immer.

Früher ging es eher um gut oder böse?
Ja. Und heute geht es um anerkannt oder nicht anerkannt. Es hat eine Verschiebung gegeben von Gewissens- zu Ich-Ideal-Problemen. Die grossartigste Schamgeschichte ist übrigens der Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies. Als sich Adam und Eva selbst erkannten, das heisst sich auch von aussen wahrnahmen, fühlten sie sich zunächst nicht schuldig, sondern schämten sich. Der Sündenfall ist eigentlich ein Schamfall.

Und wie verhält sich die Scham zur Beschämung?
Die Beschämung ist die Instrumentalisierung der Scham. Man benützt die Schamfähigkeit des Menschen, um ihn kleinzumachen und zu demütigen. Scham und Beschämung ist mindestens so verschieden wie Demut und Demütigung. Wenn ich übrigens über Scham rede, wird es immer still im Publikum.

Weil Sie so in Fahrt kommen?
Nein. Weil jeder seine eigene Beschämungsgeschichte hat. Ich sage den Pfarrern immer, sie sollten weniger von Schuld und mehr von Scham reden. Das verstehen die Menschen besser.

Warum?
Weil jeder mit Selbstwertproblemen kämpft und dann nicht darüber nachdenkt, was er vielleicht grundsätzlich falsch macht. Scham hat man immer schlechtgemacht und die Schuld höher eingeschätzt. Man kann moderne Menschen aber eher über die Scham abholen und dann vielleicht auch wieder über die Schuld sprechen.

Sie werden nächsten Samstag einen Workshop mit Konfirmanden leiten. 1970 haben Sie Ihre Dissertation über den «Gebrauch von Cannabis unter Jugendlichen Zürichs» geschrieben. Befragen Sie die Konfirmanden auch zu Cannabis?
Nein, ausser es kommt von ihnen selbst. Ich werde über depressive Nöte sprechen und wie man vielleicht etwas besser mit depressiven Menschen umgehen kann. Wir werden das in Gruppen erarbeiten. Die 16-Jährigen darf man nicht unterschätzen.

Am Sonntag werden Sie zum Tag der Kranken im Grossmünster das Thema Depression in einen biblischen Bezug setzen, und zwar anhand der Heilung eines Taubstummen durch Jesus (Markus 7,31-37). Lüften Sie jetzt schon ein bisschen den Schleier?
Das kann ich nicht, weil ich innerhalb des Dialogs gefragt und herausgefordert werde. Das kann sich offen entwickeln. Aber Grossmünster-Pfarrer Christoph Sigrist und ich werden uns noch absprechen. Die Stelle im Markus-Evangelium ist relativ kurz.

Was werden Sie dazu sagen?
Ich werde keine Wunder erklären, schon gar nicht psychologisch, und Jesus auch nicht in die Psychiatrie integrieren. Es geht mir um das seelische Berührtwerden. Mein Lieblingssatz dazu lautet: Je mehr Hightech, umso wichtiger wird High Touch. Es geht um Berührung und das Annehmen der Berührung. Man hat ja gegenüber depressiv Erkrankten oft Angst vor Ansteckung und dass man selbst ins Loch fällt. Wenn man aber einem depressiven Menschen offen begegnen kann, nichts beschönigt, aber auch nichts noch schlechter macht, kann man vielleicht die richtigen Fragen stellen und ihm helfen.

 

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Matthias Böhni / ref.ch / 3. März 2016

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