Der Supermann der protestantischen Arbeitsethik
Zehntausende Menschen strömen jeden Tag an der Statue von Alfred Escher vor dem Zürcher Hauptbahnhof vorbei. Kaum einer beachtet den Mann mit dem lockigen Vollbart.
Vor 200 Jahren ist dieser helvetische Supermann geboren worden, dem die Eidgenossenschaft nicht nur den Gotthard-Tunnel und die ETH verdankt, sondern auch die Rentenanstalt (heute Swiss Life) und die Schweizerische Kreditanstalt (heute Credit Suisse). Der Eisenbaron hat dafür gesorgt, dass alle Schienenwege nach Zürich führen und hier heute der bedeutendste Eisenbahnknoten der Schweiz entstanden ist. Jetzt zu seinem 200. Geburtstag überbieten sich die publizistischen Laudatoren mit Superlativen. «Er war ein Titan», jubelt der Alfred-Escher-Biograph Joseph Jung, der gerne auch «Stellvertreter Eschers auf Erden» betitelt wird. Die gesamte DNA der modernen Schweiz gehe auf Escher zurück: Finanz- und Forschungsplatz, das Bahnsystem und die Tourismusindustrie.
Büroschlaf statt Belvoir-Muse
In dem breit entfalteten Lebenspanorama von Jungs dickleibiger Escher-Biographie finden sich viele Spuren, die zeigen: Im Erzkapitalisten Escher personifiziert sich das, was der deutsche Soziologe Max Weber als «protestantische Arbeitsethik» auf eine Formel brachte. Das herausragende Argument in der Beweiskette, dass sich in Escher der Modellfall für eine reformierte Arbeitstugend findet, ist folgender Charakterzug: ein Söhnchen aus reichem Hause, gebettet auf den Rosen im weitläufigen Park der Villa Belvoir in Wollishofen, der direkt an den See anstösst, macht sich trotz seines Erbes auf zu arbeiten und nichts als zu arbeiten. Selbst sein Anwesen Belvoir bekommt ihn nicht oft zu sehen, da er lieber eine Liege in seinem Büro in der Kreditanstalt installiert, um nicht zu viel Zeit zu verplempern auf dem Heimweg in seine Villa.
Den ruhelosen Wirtschaftsführer und Politiker hat der grösste Schweizer Romancier Gottfried Keller für seine eiserne Disziplin gerühmt: «Der Sohn eines Millionärs unterzieht sich den strengsten Arbeiten vom Morgen bis am Abend, übernimmt schwere, weitläufige Ämter in einem Alter, wo andere junge Männer, wenn sie seinen Reichtum besitzen, vor allem das Leben geniessen.»
Workaholic als Lebensform
Der junge Escher hat von der ersten Stunde an, als er von der Universität Leipzig wieder in Zürich landete, sich als Workaholic erwiesen. Mit Siebenmeilenstiefeln ist er die Karriereleiter hinauf gestürmt. 1844, gerade erst 25 Jahre alt, sass er bereits im Kantonsrat, als 28-Jähriger im Regierungsrat.
1857 war Escher Verwaltungsratspräsident der Kreditanstalt, Direktionspräsident der Nordostbahn, Präsident des Nationalrates, Präsident des Zürcher Grossen Rates und Vizepräsident des Eidgenössischen Schulrates. Diese Arbeitsdichte zehrte an seiner Konstitution. Kuraufenthalt war nach dem Burnout angesagt. Aber das unermüdliche Energiebündel setzte zu seinem grössten Sprung an, den auch die Zürcher Denkmalfigur mit dem nach Süden blickenden Escher symbolisiert: der Gottharddurchstich.
Der Bau des Gotthards sollte ihn vom Höhepunkt zu seinem tiefsten Fall führen. Als der Tunneldurchbruch des damals längsten Tunnels der Welt in Luzerns Schweizerhof gefeiert wurde, stand der Mann, der dieses Jahrhundertbauwerk vorangetrieben hatte, nicht auf der Gästeliste. Die Finanzprobleme auf der schwierigsten Baustelle der Schweiz haben ihn in Ungnade fallen lassen.
Nun aber zur Frage ob neben der Arbeitsethik Escher auch etwas Protestantisches anhaftete. Auf der weit gespannten Liste von Eschers Ämtern findet sich auch das Mandat als Zürcher Kirchenrat. Vor allem sticht hervor, dass er von Jugend auf religiös erzogen wurde. Ein Team von Theologen schulte Escher, beispielsweise sein Turnlehrer Alexander Schweizer, der später zum berühmtesten Theologen der Zwinglistadt avancierte.
Katholiken-Bashing
Natürlich nutzte er sein reformiertes Profil für die Politik, um in kulturkämpferischen Zeiten Katholiken-Bashing zu betreiben. Er hielt polemische Reden gegen die Jesuiten und sorgte für die Klosteraufhebung Rheinau. «Wir wollen keine Klöster im Lande haben!», befand er und soll beigefügt haben: «In meinem Kanton Zürich haben Faulenzer keinen Platz!» Natürlich kam Escher vor allem das klösterliche Vermögen zupass, das zu grossen Teilen dem Bau der ETH zufloss.
Im Gegensatz zu seinem Freund Gottfried Keller, dem aufgrund der Begegnung mit Ludwig Feuerbach «Gott aus der Menschenbrust» weg gesungen wurde, ist Escher ein Gottgläubiger geblieben. So sagt es jedenfalls Schweizer bei der Abdankung im Fraumünster: «Er hat nie gemeint, je mehr Ordnung, Zusammenhang, Folgerichtigkeit man in der Natur erkenne, desto mehr müsste der Gottesglauben zurücktreten.» Und dann markiert Schweizer wie sich Arbeit bei Escher zum religiösen Moment verwandelt hat, das auch nicht durch dessen tiefen Fall nach der Gotthard-Krise erschüttert wurde: «Ihr fraget: Ist dieser Mann glücklich gewesen? Nein, wie man das gewöhnlich versteht. Ja, wie er es verstand. Er hat im Verkanntsein gesprochen: ‚Das Beste am Leben ist ja doch Arbeit, Mühe und Anstrengung.’ Ein Arbeiter ist er geblieben und fand darin seine Befriedigung, er, der gleich andern in Behagen und Nichtstun hätte vegetieren können, ein Arbeiter bis zum Übermass, sodass seine Augen fast erblindeten, seine Konstitution erschüttert wurde. Und doch hat er das ihn vollends erschütternde Leid würdig getragen.»
Delf Bucher, reformiert.info, 25. Februar 2019
Der Supermann der protestantischen Arbeitsethik