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Der Tod und die roten Schuhe

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23.06.2016
Wer Kinder hat, kennt Linard Bardill, seine Konzerte, seine Musik und Bücher. Es gibt auch den Linard Bardill für Erwachsene. Der Liedermacher und Theologe bietet Seminare mit dem Titel «Sterben für Anfänger» an. Eindrücke eines Tages über den Tod, der das Leben feiert.

Helles Licht fällt durch die Fenster. Staub tanzt in der Luft. Vorne steht Linard Bardill, wie man ihn aus den Medien kennt: Flatternde Hose, runde John-Lennon-Brille, das störrische Haar in einem Pferdeschwanz gezähmt und als i-Tüpfelchen die roten Schuhe. Hier steht einer mitten im Leben.

Zehn «Anfängerinnen» sind an diesem Samstagmorgen ins Liestaler Kirchgemeindehaus gekommen. Die Männer scheint das Sterben weniger zu beschäftigen. Linard Bardill bietet dafür eine Erklärung. Er, selber fünffacher Vater, versteht den Tod wie eine Geburt, einen Übergang, eine emotionale und körperliche Erfahrung, der Frauen als Gebärende wohl näherstünden.

Die Anwesenden als «Sterbeprofis» zu bezeichnen, wäre übertrieben. Doch Anfängerinnen sind sie nicht. Sie haben Erfahrungen mit dem Tod, als Theologin, Seelsorgerin, Sterbebegleiterin oder Angehörige eines Verstorbenen. Wer hier sitzt, hat keine Berührungsängste. Das Sprechen über den Tod ist kein Tabu.

Du willst wissen, was ich wünsche wenn ich sterbe
Den Schlag der
Stunde hören und verstehen
Ich will nicht kleben an dem Leben und mit Lust
Aufs Sprungbrett
steigen etwas federn und dann gehen

«Sterben für Anfänger» behandelt nicht praktische Fragen wie Patientenverfügung, Hightech-Medizin versus Palliativpflege und Sterben im Hospiz, Spital oder zu Hause. Es geht in diesem Seminar um die eigene Einstellung zum Leben und zur «anderen Seite». Mit Linard Bardill wagt man einen Blick über den Tod hinaus. Die Frage lautet: «Wie komme ich zum Glauben an ein Jenseits?»

«Wie man lebt, so geht man in den Tod», sagt Bardill. Umgekehrt beeinflusse die andere Seite das Leben. «Ich sterbe, wie ich gelebt habe, über meine Verhältnisse», zitiert er ein Bonmot des Schriftstellers Oscar Wilde. «Rama», was so viel wie «derjenige, der sich freut» bedeutet, soll Mahatma Gandhis letztes Wort gewesen sein, während gemäss einer Auswertung von Blackboxes abgestürzter Flugzeuge die Mehrheit der Piloten im Angesicht des Todes «Scheisse» riefen.

Ich möchte springen wie ein Frosch von seinem Rosenblatt
Mit Augen
auf und Armen weit ein grosser Satz
Und sag dann bitte nicht ich solle bleiben
Sei einfach bei mir und
wenn’s Zeit ist lass mich los
Oh lass
mich gehen

Auf den Stühlen liegt das Willkommensgeschenk für die «Anfängerinnen». Bardills Büchlein «Das Leben ist ein Fest». Es ist die Geschichte von Hamster Hamlet, der durch das Feiern mit Freunden das Glücklichsein entdeckt. Als Einstieg erzählt Bardill die Geschichte vom «Doppelhas». Auch sie ist den meisten Müttern wohlbekannt. Der Doppelhase langweilt sich im blauen Wunderland so sehr, dass er sich ans Sterben macht. Denn, meint er: «besser, ich sterbe ein wenig, dann habe ich wenigstens etwas zu tun».

Der unverstellte kindliche Blick, mit dem Hamlet und Doppelhase sich ans Leben und Sterben machen, hilft, sich für das Thema zu öffnen. Das innere Kind verschafft sich beim Erwachsenen Gehör – im Wunderland «brutal esoterischer» Atem- und Tanzübungen ebenso wie in der «mörderischen Experimentalkiste» einer Spiegelbetrachtung, so Bardill. Alles begleitet der Liedermacher mit seiner Gitarre und seinen Songs. Und mit seinem Humor. Etwa wenn er sich bei einer meditativen Einkehr von «zehn bekrönten Königinnen umgeben» sieht. «Das Wunder ist überall», kommentiert er dies augenzwinkernd im breiten Bündner Dialekt.

Ich bin das Kind auf deinem Kirschbaum und will springen
Und wer
mich auffängt unten siehst du nicht
Und musst du weinen bitte wein und willst du singen
Dann sing ich bis
der Morgen anbricht mit

«Sterbenlernen hat mit Bewusstsein zu tun», sagt Linard Bardill. Wer bewusst atmet und sich dem Rhythmus der körperlichen Bewegung hingibt, wer sich und seine Werke «mit Wohlgefallen betrachtet und würdigt», lernt das Loslassen und findet seine Mitte. Dies sei für das Leben und das Sterben etwas vom Wichtigsten. «Das Sterben hat wie das Leben einen Puls, einen Fluss.»

Als Theologe kennt Bardill die Mythen und Jenseitsvorstellungen der verschiedenen Religionen und Kulturen. Wie der antike Sänger Orpheus bewegt er sich an der Schwelle zwischen Leben und Tod. Er begleitet Sterbende und gibt «Bettenkonzerte» in Schweizer Kinderspitälern.

Früh hat der Theologe die Kanzel gegen die Bühne getauscht. Der einstige Rebell und «Wolf im Schafspelz» (Bardill über Bardill) ist heute ruhiger geworden. Der letzte Lebensschritt beschäftigt ihn. Wie Orpheus will er darüber singen und reden: «Heute sind das Sterben, der Tod und die Beschäftigung mit dem, was danach kommt, tabuisiert.» 80 Prozent des Geldes der Krankenkassen flössen in die letzten Lebensjahre. Trotzdem würden wir die Kunst des Sterbens nicht mehr kennen und die Leute würden oft alleine sterben. Die Gesellschaft habe die kollektiven Bilder für das Leben nach dem Tod vergessen, meint Bardill. «Die verlorenen Vorstellungen des Todes haben einen Einfluss auf das Leben.»

Doch wenn die Sonne kommt dann musst du mich wirklich gehen lassen
Ich fliege mit dem Morgenstern durchs grosse Tor
Ein kurzes Glitzern noch und dann sind wir verschwunden
Im blauen Himmel und dein Herz wird weit und gross

In Liestal mutet Linard Bardill den Teilnehmerinnen eine intellektuelle «tour de force» zu. Innerhalb einer Stunde handelt er 3000 Jahre abendländische Religions-, Philosophie- und Kulturgeschichte ab. Von den alten Griechen über das Mittelalter und die Aufklärung bis zum Materialismus im 19. Jahrhundert.

Derart vorbereitet geht es in die Praxis: Fünf Minuten vor dem Handspiegel sich selber ins Gesicht blicken – für die meisten gewöhnungsbedürftig. Bei manchen führe dieses Experiment zu einer Art übersinnlicher Erfahrung, sagt Bardill. Etwas blitze auf – Gott? Das wäre eine Glaubenserkenntnis. An diesem Samstagnachmittag hat sie keine der «Anfängerinnen». Niemand sieht Gott. Die Selbstbespiegelung sorgt trotzdem für überraschende Einsichten und Lacher.

Nun weisst du, was ich wünsche wenn ich sterbe
Den Schlag der Stunde hören und verstehen
Ich will nicht kleben an dem Leben und mit Lust
Aufs Sprungbrett steigen etwas federn und noch etwas federn und dann gehen
Oh lass mich gehen

Man solle sich nicht verordnen lassen, was man glaubt, meint Linard Bardill. Die eigenen Erfahrungen seien wunderbar. Wenn man seine Erlebnisse, etwa eine Nahtoderfahrung, interpretiere, spüre man eine Veränderung, die zum Glauben führe. Dieser Glaube entscheide darüber, wie man dem Tod und dem Leben begegnet, ob mit «Rama» oder «Scheisse», sagt Bardill.

Lied «Lohn mi go»: Text und Musik Linard Bardil

Karin Müller / Kirchenbote / 23. Juni 2016

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