Der Vergangenheit eine Zukunft geben
«2012 begannen sich die Leute hier in der Schweiz aufgrund des Konfliktes in Syrien für meine Geschichte zu interessieren», sagt der Syrer Zouher Adwan, der seit 2011 in der Schweiz lebt. «Und ich realisierte, wie stolz ich vom kulturellen Erbe meiner Heimat erzählte – von der Damaszenerseide, dem mundgeblasenen Glas, den Holzarbeiten mit eingelegtem Perlmutt oder der Ziselierkunst.»
Seine Faszination für traditionelles Handwerk entdeckte der heute 39-Jährige als junger Kunststudent in seiner Heimat Syrien. Für eine Installationsarbeit suchte der Akademiker in den engen Gassen der Damaszener Altstadt den Kontakt zu Handwerkern, die seit mehreren Generationen ihre Handwerkskunst pflegen.
Vielseitige Herausforderungen
Der ausgebildete Grafiker entwickelte aus seiner Faszination die Idee, die uralten syrischen Handwerke vor dem Aussterben zu retten. «In Syrien sind viele Werkstätten inzwischen geschlossen», sagt Adwan. «Es besteht die Gefahr, dass unsere Traditionen vergessen gehen. Ich will mich dafür einsetzen, dass das Handwerk der nächsten Generation weitergegeben wird», sagt Adwan.
In Syrien herrscht seit 2011 Krieg. Was einst mit friedlichen Demonstrationen der Bevölkerung begann, ist heute ein Konflikt mit internationalen Akteuren – jüngst marschierte die Türkei in Nordsyrien ein. Der Krieg forderte gemäss UNO bis heute über 400 000 Todesopfer, sechs Millionen Flüchtlinge und sechs Millionen Binnenvertriebene.
Adwan gründete in seiner neuen Schweizer Heimat die Internetplattform «WeTheSouk» mit der Idee, die Handwerks-Tradition am Leben zu erhalten und den Männern und Frauen Arbeit zu verschaffen. «Die Handwerker haben mit dem Konflikt, mit einer kaputten Infrastruktur, mit Inflation, fehlendem Tourismus und Sanktionen zu kämpfen.»
Menschen mit Stolz erfüllen
Ein spezielles Augenmerk hat Adwan bei seinem Projekt auf die Frauen: «Sie sind es, die im Konflikt die grosse Last tragen und in Nachkriegszeiten grosse Arbeit leisten, weil ihre Männer beispielsweise an der Front starben», begründet Adwan. Deshalb will er Witwen und im Land und den Nachbarländern vertriebenen Frauen zu Arbeit verhelfen. «Diese Frauen haben ein grosses Potenzial, das sie aufgrund der Situation nicht ausschöpfen können», sagt Adwan und fügt an: «Ich will den Menschen eine Chance geben, zu tun, was sie gut können. Das erfüllt sie mit Stolz. Es geht nicht darum, sie einfach finanziell zu unterstützen.»
Adwan strebt einen Online-Verkauf an von qualitativ hochwertigen Handwerkarbeiten, die gemeinsam mit Schweizer Designern kreiert und von traditionellen Handwerkern in Syrien produziert werden. Zudem will er eine kulturelle Brücke schaffen zwischen Schweizern und Syrern, zwischen schweizerischem und syrischem Traditionshandwerk. «Ich träume davon, einen Raum zu schaffen, in dem sich Menschen aus verschiedenen Kulturen begegnen und durch Kunst und Kultur Gemeinsamkeiten entdecken. Und, ich will Ausbildungszentren für Handwerkskunst für junge Syrer aufbauen.»
Ein Zeichen für eine gesunde Gesellschaft
Zu Beginn hat Adwan sein Erspartes ins Projekt gesteckt. Jetzt aber möchte er sein Projekt weiter ausbauen, aktiv werden, und hat deshalb eine Crowdfunding-Projekt gestartet. Während Adwan von seinen Träumen und Plänen erzählt, braucht er das Bild des Marktplatzes – dem Souk, wie es auf arabisch heisst: «Historisch gesehen ging der Souk weit über den Handel hinaus. Er war ein Brennpunkt des kulturellen, sozialen und politischen Austausches. Wenn Getümmel im Souk herrscht, ist das ein Zeichen dafür, dass es der Gemeinschaft gut geht», sagt Adwan. Es gelte den in Syrien kollabierten Souk wieder zum Leben zu erwecken.
Nicola Mohler, reformiert.info, 28. Oktober 2019
Der Vergangenheit eine Zukunft geben