«Die besten Freunde aller Zeiten»
Die Scheinwerfer tauchen die Bühne in ein mystisches Licht. Die Stimme eines jungen Mannes hallt in breitem Baseldeutsch durch das Mikrofon: «Loss Jesus in di Läbe!» Wer sich an einem Rockkonzert glaubt, liegt falsch: Es ist Sonntagmorgen und das ICF Basel feiert Gottesdienst.
Das International Christian Fellowship ICF ist nur eine der religiösen Gemeinschaften, die man heute in der Deutschschweiz kennt. Sie erfreut sich zunehmender Beliebtheit und hat inzwischen in den grössten Schweizer Städten und sogar in Deutschland und Tschechien Zweigstellen gegründet. Sie gehört somit zu einem Phänomen, das der Religionswissenschafter Georg Schmid als «In-Gemeinschaft» bezeichnet. Solche Gruppen haben über kurz oder lang enormen Zulauf. Aus dieser Bestätigung beziehen sie dann ihr «trendiges Image». Diese Art von Angeboten prägt die öffentliche Wahrnehmung des freikirchlichen Umfelds.
Dennoch nimmt Georg Schmid, Leiter der Beratungsstelle relinfo.ch eine gegenläufige Tendenz wahr: «Beobachtbar ist insbesondere eine Tendenz weg von grossen und mittelgros-sen Organisationen, hin zu Klein- und Kleinstgemeinschaften.» Allein in der Deutschschweiz zählt man heute über 1000 verschiedene Gemeinschaften. Vor zehn Jahren waren es nur knapp die Hälfte.
Zeit der Gurus ist vorbei
In den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts haben grosse Gemeinschaften wie Scientologen, Hare-Krishnas und selbst ernannte Medien wie Uriella Schlagzeilen gemacht. Heute sei es in der Szene ruhiger geworden, bestätigen die Religionsexperten auf Anfrage.
Mitgliederschwund scheint nicht nur ein Problem der Landeskirchen zu sein: Selbst radikalere christliche Organisationen sind von dieser Entwicklung betroffen. Die Zahl der Zeugen Jehovas stagniert, jene der Neu-Apostolen schrumpft gar. Die Gesamtzahl der Mitglieder der Gemeinschaften ist jedoch gleich geblieben: Wie kann das sein?
Gerade am Rande der Freikirchenlandschaft blüht eine Szene von lokalen, meist personen-zentrierten Kleingruppen. Sie formieren sich aus Freikirchengängern, die von ihren ehemaligen Gemeinden enttäuscht sind. Oft vermissen sie die einstige Leidenschaft und die vehemente Kompromisslosigkeit.
Auch im Bereich der Esoterik seien in den letzten Jahren zahlreiche Grüppchen entstanden. Manche von ihnen glauben, neue Offenbarungen von biblischen Gestalten zu empfangen oder verehren eigene Meister. So zum Beispiel die «Yogaschulen Heinz Grill» aus Deutschland, deren Gründer Heinz Grill seine verbindlichen Lehren durch «Geistesschau» gewinnt.
Generationenübergreifend
Das Bedürfnis nach Spiritualität und religiöser Gemeinschaft nimmt zu. In den 70er-Jahren waren es vor allem Jugendreligionen, welche die Landschaft prägten: Leidenschaftlich vertraten auch christliche Gruppen die Jesusnachfolge und freie Liebe. Mit Methoden wie dem «Flirty Fishing», Mission durch Sex, konnte etwa «Children of God» Jugendliche für ihre Gemeinschaften begeistern. «Heute sind alle Generationen im freikirchlichen Umfeld vertreten», sagt Georg Schmid. Auch ältere, oft einsame Menschen fänden beispielsweise bei den Zeugen Jehovas ein Zuhause.
Einsamkeit ist laut Georg Schmid einer der typischen Gründe, aus denen Menschen radikalen Gemeinschaften beitreten: «Einsame Menschen schliessen sich einer Gruppe an, die sich durch «Love Bombing» als die besten Freunde aller Zeiten anbieten.» Viele erhoffen sich mit einem Beitritt den Ausweg aus weltlichen Krisen, sei es beruflicher Misserfolg oder Pech in der Liebe.
Toleranz mit Grenzen
Die einzige Konstante in der religiösen Landschaft der Schweiz ist die Veränderung. Verändert habe sich auch die Haltung der Bevölkerung gegenüber Freikirchen oder radikalen christlichen Gruppen, erklärt Georg Schmid von relinfo.ch. Galt früher jeder ausserhalb der Volkskirche als Sektierer, so sei man heute differenzierter. Für manche ist die kleinste Kritik an religiösen Gemeinschaften bereits ein Zeichen von Intoleranz, für andere bilden schon die Methodisten eine Sekte.
Die Fachstelle infosekta.ch, eine Organisation zum Schutz und zur Beratung Betroffener, unterstreicht, dass es immer mehr umstrittene Gemeinschaften gibt und der Markt unübersichtlicher wird. Umso wichtiger sei es, dass sektenhafte Aspekte klar benannt und griffig beschrieben werden. Anhaltspunkte zu sektenhaften Kriterien hülfen den Ratsuchenden, auch bei unbekannten Gruppen eine erste Einschätzung vorzunehmen.
Dass schlechte Erfahrungen oder Ängste in der Bevölkerung existieren, zeigt sich vor allem, wenn die Tochter oder der Sohn plötzlich «gläubig» wird und sich von der Familie abwendet. Bei Beratungsstellen wie infoSekta nehmen die Anfragen besorgter Bürger zu: «Die Problematik der missbrauchten Sehnsucht in der Spiritualität bleibt weiterhin ein Thema.»
«Ausverkauf der Freiheit»: Hugo Stamm hält eine «Kanzelrede» in der reformierten Kirche in Waldenburg BL, Freitag, 7. Februar, 20.15 Uhr. Hugo Stamm ist Autor, Journalist und Redaktor beim «Tages-Anzeiger». Seit den 70er-Jahren befasst er sich mit neureligiösen Bewegungen, Sekten, Esoterik, Okkultismus und Scharlatanen.
Zum Bild: Worship im ICF in Berlin: Die Freikirche International Christian Fellowship ICF erfreut sich zurzeit grossen Zulaufs. | zvg
Delphine Conzelmann
Religionskenner Georg Otto Schmid: «Heute sind alle Generationen im freikirchlichen Umfeld vertreten.»
«Die besten Freunde aller Zeiten»