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Seenotrettung

«Die griechische Justiz schürt Unsicherheit»

von Cornelia Krause/reformiert.
min
08.07.2023
Seenotretter Seán Binder verbrachte 2018 wegen seines Engagements für Geflüchtete drei Monate in griechischer Haft. Noch heute ist der Ausgang des Verfahrens offen.

Sie wurden 2018 gemeinsam mit Sarah Mardini verhaftet, verbrachten dann über drei Monate im Gefängnis wegen Ihres Engagements für die Seenotrettung in Lesbos. Was haben Sie dort gemacht? 

Sean Binder: Ich habe für die griechische NGO Emergency Response Centre International gearbeitet. Die Organisation besitzt Schiffe für die Seenotrettung. Ausserdem betrieb sie ein medizinisches Zentrum im Flüchtlingslager Moria, das 2020 abgebrannt ist. Dort unterstützten wir auch die Administration bei der Verteilung von Gütern an sehr hilfsbedürftige Menschen. Ich habe einen Rettungstauchschein und kann Motorboot fahren, deshalb war ich primär auf See oder an der Küste im Einsatz.   

Wie verlief die Zusammenarbeit der Seenotrettung mit den Behörden vor Ort? 

Wir arbeiteten eng mit der Küstenwache und auch Frontex zusammen, quasi Schulter an Schulter. Wir informierten sie immer, wenn wir auf ein Schiff in Seenot gestossen sind. Auch wenn wir auf dem Wasser Trainings abhielten, waren sie stets im Bild. Diese Zusammenarbeit kann ich belegen, mit Emails und anderen Dokumenten. Umso absurder, sind die Vorwürfe, die gegen uns erhoben wurden.   

Die Vorwürfe gegen Sie und 23 weitere Helfer sind heftig, unter anderem Spionage, Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation, Menschenschmuggel, Geldwäsche. Es drohen bis zu 25 Jahren Haft. Was ist der Stand des Verfahrens? 

Es ist ein Hin und Her und sehr kompliziert. Auch, weil es eigentlich zwei Verfahren sind. Bei einigen Vorwürfen handelt es sich um Ordnungswidrigkeiten, bei anderen um schwere Verbrechen. Erstere wären eigentlich nach fünf Jahren verjährt. Anfang des Jahres entschieden Richter, diese Anklage fallen zu lassen, unter anderem aus verfahrenstechnischen Gründen. Wir hatten beispielsweise keinerlei Übersetzung erhalten, auch die Anklage war nicht klar formuliert. Aber dann beschloss die Staatsanwaltschaft, in Berufung zu gehen, jetzt muss der oberste Gerichtshof entscheiden. Das Verfahren wegen schwerer Verbrechen verjährt erst nach 20 Jahren. Auch hier warten wir noch. Und die griechische Justiz tut bislang alles, um die Verfahren so lange hinauszuzögern wie möglich.

 

Seán Binder

Seán Binder (Jahrgang 1996) ist deutsch-irischer Staatsbürger. Er studierte Politik- und Rechtswissenschaften und arbeitet als Jurist. 2017 bis 2018 unterstütze er als Rettungstaucher die griechische NGO Emergency  Response Centre International auf der griechischen Insel Lesbos. Für seinen Einsatz wurde er 2018 gemeinsam mit weiteren Aktivisten verhaftet. Der Fall sorgte weltweit für Aufsehen und wird unter anderem von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International eng begleitet. Die juristischen Verfahren finanzieren Binder und seine Mitangeklagten über die Fundraisingplattform Betterplace.

 

Zu welchem Zweck?

Um Unsicherheit zu schüren. Diese Unsicherheit schreckt andere Menschen davon ab, sich für die Seenotrettung zu engagieren. Auf Lesbos gibt es keine NGO mehr, die mit Freiwilligen in dem Bereich aktiv ist. Auch in anderen Orten sind Aktivisten zurückhaltender geworden. Die unweigerliche Folge davon ist, dass mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken werden, weil Hilfe ausbleibt. Dass es hier um Abschreckung geht ist deutlich: Wären wir wirklich die Kriminellen, die man uns vorwirft zu sein, dann würden die griechischen Behörden alles dafür tun, uns so schnell wie möglich hinter Gittern zu bringen. Aber sie haben gar nichts gegen uns in der Hand. Wir sind aber auch kein Einzelfall. 

In den Mittelmeerländern landen vielfach auch Menschen, die auf der Flucht waren, vor Gericht.

Sondern?

Ich arbeitete für eine von der EU finanzierte Rechercheplattform Resoma. Mein Forschungsschwerpunkt war die Kriminalisierung humanitärer Hilfe. Bis 2020 wurden über 180 Personen wegen ihres Engagements kriminalisiert, es gab mindestens 50 Verfahren in mindestens 13 EU-Mitgliedstaaten. Es ging nicht nur um Länder an der EU-Aussengrenze am Mittelmeer, auch Frankreich, Skandinavien waren darunter, sogar die Schweiz. Und es werden nicht nur freiwillige Helfer angeklagt: In den Mittelmeerländern landen vielfach auch Menschen, die auf der Flucht waren, vor Gericht. 

Was wird ihnen zur Last gelegt?

Sie werden des Menschenhandels beschuldigt. Sie wurden festgenommen, weil sie am Steuerrad waren, als das Boot aufgegriffen wurde. Dabei haben sich die eigentlichen Schleuser längst aus dem Staub gemacht. Diese Menschen kümmerten sich um das Boot, weil kein anderer da war und einer die Aufgabe übernehmen musste.

Jüngst kam es zu der wohl grössten Tragödie auf dem Mittelmeer überhaupt: Hunderte Menschen ertranken in griechischen Gewässern. Die Überlebenden erhoben schwere Vorwürfe gegen die Küstenwache. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Ich kann nur meine Meinung dazu sagen, ich war nicht vor Ort. Tatsache ist, dass die griechische Küstenwache entsprechend dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen einem Boot in Not helfen muss. Die Küstenwache räumte ein, das nicht getan zu haben und sie lieferte Gründe dafür. Insofern scheint sie gesetzeswidrig gehandelt zu haben. Ob es sich um einen Pushback-Versuch handelte, also das gesetzeswidrige Abschleppen von Menschen in fremde Gewässer oder gar einen Versuch, das Boot zum Kentern zu bringen, kann ich nicht beurteilen. Es gab zwar solche Anschuldigungen aber ich habe keine Beweise dafür gesehen.

Es ist nicht in Ordnung, dass Länder wie Italien oder Griechenland rein aufgrund ihrer geografischen Lage mehr in der Pflicht stehen als andere.

Wie beurteilen Sie den jüngsten EU-Migrationspakt, der Flüchtlingszentren an den Aussengrenzen der EU vorsieht?

Dieser Pakt hat verschiedene Aspekte. Einer davon ist, dass die Flüchtlinge gerechter auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden und Staaten, die keine Migranten aufnehmen wollen, dafür bezahlen müssen. Das ist nachvollziehbar, denn es ist nicht in Ordnung, dass Länder wie Italien oder Griechenland rein aufgrund ihrer geografischen Lage an Europas Aussengrenze mehr in der Pflicht stehen als andere. Ein zweiter Aspekt sind die schnellen Verfahren in diesen geplanten Zentren. Das sehe ich kritisch.

Sie fürchten unfaire Verfahren?

Genau. Schnellere Verfahren könnte dazu führen, dass Menschen nicht umfangreich angehört werden. Damit würden ihre Rechte als Asylsuchende verletzt.

Ein Land kann für 99 Personen sicher sein, aber für eine einzige Person nicht.

Auch, wenn es um Menschen geht, die wenig Chancen auf Asyl haben, weil sie aus Ländern kommen, die eigentlich als sicher gelten?

Ja, auch dann. Ein Land kann für 99 Personen sicher sein, aber für eine einzige Person nicht, vielleicht weil diese Person eine bestimmte Überzeugung hat, homo oder transsexuell ist oder weil sie einer ethischen Minderheit angehört. Jeder Mensch hat das Recht, ein Gesuch auf Asyl zu stellen und ganz individuell angehört zu werden. Das ist Gesetz und darüber gibt es keine Kontroverse.

Angesichts von illegalen Pushbacks, die es ja gibt und den Plänen zu schnelleren Asylverfahren – Nimmt Europa seine Verantwortung gegenüber Asylsuchenden nicht mehr wahr?

Ich befürchte, dass unser Vorgehen an den Grenzen und mit Blick auf die Migration nicht mehr von Gesetzen und Verpflichtungen gegenüber Menschen- und Flüchtlingsrechtskonventionen geleitet werden, sondern von Impulsen. Das darf nicht sein, in Europa müssen die Gesetze massgebend bleiben. 

In der Dokumentation «Gegen den Strom» wird deutlich, dass die anhaltende Unsicherheit über den Prozess sich auch stark auf Sarah Mardinis Zukunft auswirkt, es ihr schwer fällt, Zukunftspläne zu schmieden. Wie geht es Ihnen?

Ich habe die Seenotrettung aufgegeben aber ich wollte sie ohnehin nicht ein ganzes Leben lang machen. Zeitweise machte es das Verfahren schwieriger für mich, eine Arbeit zu finden aber das ist jetzt kein Problem mehr. Ich arbeite halbtags für die juristische Fakultät der University of New York und beschäftige mich mit Sicherheitspolitik. Nachmittags arbeite ich für die britische Menschenrechtsorganisation Justice. 

 

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