Die grosse Sehnsucht nach dem verlorenem Glauben
«Nichts.» Damit endet die berühmte Erzählung «Der Tunnel» von Friedrich Dürrenmatt, der am 5. Januar 100 Jahre alt geworden wäre.
Der Student, der als Einziger im Zug merkt, dass ein kurzer Tunnel auf der Strecke von Bern nach Zürich zum dunklen Abgrund, beantwortet mit dem Wort die Frage des Zugführers, was zu tun sei. In der Erstfassung von 1952 schiebt er nach: «Gott liess uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu.»
Ein Satz, «der die Dialektik vom richtenden und gnädigen Gott zusammenbringt», sagt Pierre Bühler. Vielleicht habe ihn der Autor darum gestrichen, als er die Erzählung 1978 erneut publizierte: «Weil er sich allzu gut für Predigten eignet.» Der emeritierte Theologieprofessor ist fasziniert von Dürrenmatts Texten, seit er als Gymnasiast in Biel über den «Besuch der alten Dame», den die Theatergrupppe aufführte, einen Zeitungsartikel schrieb.
Die Grausamkeit der Komödie
Mit Blick auf Dürrenmatts Gesamtwerk ist der neue Schluss konsequent. -Eine Geschichte ist für ihn «dann zu Ende gedacht, wenn sie die schlimmst mögliche Wendung genommen hat». Eine Apokalypse ohne Hoffnung auf das neue Jerusalem. Dürrenmatts «Tunnel» etwa ist mit Blick auf die Klimakrise beklemmend aktuell: Die Fahrgäste machen sich keine Sorgen, solange der Fahrplan stimmt. Ins Nichts fallend, tun sie nichts.
Da Dürrenmatt aktuelle Fragen aufgreift, sucht er in der Darstellung die Distanz. Seine Kunst «will nicht mitleiden, sie will darstellen», schreibt er in seinen «Anmerkungen zur Komödie». Und nur das Groteske besitze «die Grausamkeit der Objektivität, doch ist sie nicht die Kunst des Nihilisten, sondern weit eher des Moralisten». Diese Kunstform sei «unbequem, aber nötig».
In dem, was auf der Bühne gezeigt wird, verbinden sich Dürrenmatts Komödien mit der griechischen Tragödie: Verhandelt wird das Scheitern der Menschen. Während sie im Drama an der Unausweichlichkeit des Schicksals zugrunde gehen und die Katastrophe oft gerade dadurch beschleunigen, dass sie sich vor ihr retten wollen, zerschellen bei Dürrenmatt die Ideale seiner Figuren an der Realität.
Noch eine weitere Differenz zum Drama benennt Dürrenmatt: Bringt der Tragiker seine Helden «tränenüberströmt um», ermorde der Autor der Komödie sie «hohnlachend». Die Beziehung zum Publikum ähnelt für Dürrenmatt jener, «die zwei Faustkämpfer zueinander haben».
Ehrendoktor der Theologie
Mit der grotesken Objektivität der Darstellung kontrastiert die Subjektivität des Blicks auf die Welt. Dabei wurde Dürrenmatt vom Philosophen Søren Kierkegaard beeinflusst. Ohne diesen sei er als Schriftsteller nicht zu verstehen, äussert er sich einmal. Dass Dürrenmatt sein Werk offensichtlich nicht für sich selbst stehen lässt und auf Bezügen zu Religion und Philosophie beharrt, macht ihn zum modernen Sonderling. Als er Germanistik und Philosophie studierte, plante er eine Dissertation über Kierkegaard. Erste Texte des Philosophen las er bereits in der Bibliothek seines Vaters, der in Konolfingen und später in Bern Pfarrer war.
Seine protestantische Herkunft prägt Dürrenmatt, verbunden mit einem individuellen Glauben, der bei Kierkegaard anknüpft: «Nun bin ich selber Christ, genauer Protestant, noch genauer, ein sehr merkwürdiger Protestant, einer, der seinen Glauben für etwas Subjektives hält, für einen Glauben, der durch jeden Versuch, ihn zu objektivieren, verfälscht wird», schreibt er 1976 in seinem Essay über Israel.
Die Theologische Fakultät Zürich nimmt die Selbstbezeichnung auf, als sie Dürrenmatt 1983 mit der Ehrendoktorwürde auszeichnet. Sie lobt ihn als Dichter, der die Theologie «mit gegensätzlichen Impulsen ihrer Tradition konfrontiert und herausfordert». Eine solche theologische Provokation erkennt Bühler in der 1953 uraufgeführten Komödie «Ein Engel kommt nach Babylon»: Die Gnade Gottes kommt im Wesen eines schönen Mädchens auf die Welt und soll dem ärmsten Bettler geschenkt werden. Doch die Gnade bringt Verwirrung statt Erlösung.
Der Bettler ist eigentlich der einzige freie Mensch in der Stadt, in welcher der König Nebukadnezar seiner Ideologie gehorchend das Bettlerwesen beseitigen will. «Dass Gottes Gnade Unheil stiftet, ist die religiöse Form der schlimmst möglichen Wendung», erklärt Bühler.
Das kreative Scheitern
Der Glaube wird zum grossen Dennoch: eine Möglichkeit, mit den Zufällen, mit denen der Mensch konfrontiert ist, klarzukommen. Dafür muss er sich auf die Gnade einlassen, selbst wenn sie eine Zumutung ist. Wie im Roman «Grieche sucht Griechin», wo Chloé als zweifelhafte Erlöserin das Wertegebäude der Hauptfigur zum Einsturz bringt.
Nur der Liebe gelinge es, «die Gnade anzunehmen, wie sie ist», lässt Dürrenmatt den Staatspräsidenten sagen, der sich unverhofft zum Prediger aufschwingt: «Die Hoffnung, ein Sinn sei hinter all dem Unsinn, hinter all diesen Schrecken, vermögen nur jene zu bewahren, die dennoch lieben.» In der Formulierung findet der biblische Dreiklang von «Glaube, Hoffnung, Liebe» (1. Kor 13,13) sein ironisches Echo.
Friedrich Dürrenmatt scheint an der existenziellen Aufgabe des Glaubens kreativ zu scheitern. Er ist «behaftet mit der Beule des Zweifels, misstrauisch gegen den Glauben, den er bewundert, weil er ihn verloren hat». Das lässt er in «Es steht geschrieben» eine Figur sagen, die vor dem Vorhang über den Autor redet.
Die letzte Rebellion
Ungebrochen bleiben die Faszination für biblische Motive und das Interesse an der Gottesfrage, wobei für Dürrenmatt Gott immer stärker zur reinen Fiktion wird. Im «Selbstgespräch» ist Gott eine Idee mit so vielen Namen, dass sie sich «an keinen mehr erinnert». Dennoch wird die Gottesvorstellung real, indem sie als ein literarisches Ich spricht.
Von Gott kommt Dürrenmatt nie ganz los, obwohl er 1988, zwei Jahre vor seinem Tod, die «Pflicht zum Atheismus» ausruft, um sich in der «Zeit der Khomeinis» vom Fundamentalismus von Teheran bis Rom zu distanzieren. Für den Theologen Pierre Bühler ein «protestantischer Atheismus»: die Rebellion gegen einen Glauben, der meint, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Vielleicht auch der alte protestantische Trotz: unbequem zwar, aber manchmal nötig.
Felix Reich, reformiert.info
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