Die Kirche besinnt sich auf ihre gesellschaftliche Verantwortung
Seit dem 1. Januar ist die neue Verfassung der reformierten Kirche Baselland in Kraft, für Kirchenratspräsident Christoph Herrmann ein Meilenstein in der noch jungen Geschichte der Baselbieter Kirche. Diese gab sich 1952 ihre erste Verfassung. Siebzig Jahre später wird sie nun ersetzt. Neben der Verfassung gelten ab diesem Jahr auch die neue Kirchen- und Finanzordnung.
«Zehn Jahre lang haben wir diese Regelwerke vorbereitet», erklärt Christoph Herrmann. «Dass die Kirche flexibler werden muss, wird seit 25 Jahren diskutiert. Da kann man es schon als epochal bezeichnen, dass wir uns jetzt über grundsätzliche Fragen, über unseren Auftrag und unser Kirchesein, einig geworden sind», sagt Herrmann. Die reformierte Kirche Baselland versteht sich weiterhin als Volkskirche, obwohl die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner, die konfessionell gebunden sind, seit kurzem unter 50 Prozent liegt. «Wenn die finanziellen und personellen Möglichkeiten abnehmen, kann sich die Kirche auf sich selber zurückziehen oder – wie wir – sich wieder darauf besinnen, dass wir für alle Menschen in diesem Kanton da sein wollen. Wir fragen niemanden nach der Konfession, wenn er oder sie seelsorgliche Begleitung braucht», sagt der Kirchenratspräsident.
Wertediskussion wachhalten
«Je weniger Leute kirchlich gebunden sind, umso wichtiger ist unsere Kirche», ist Christoph Herrmann überzeugt. Es sei die Aufgabe der Kirche, die Wertediskussion wachzuhalten, integrierend zu wirken und für Versöhnung einzustehen. «Wir wollen unsere gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen, uns einbringen und verlauten lassen.» Es gehe nicht darum, andere als schlechte Christen anzuprangern, wie es viele während des Abstimmungskampfs zur Konzernverantwortungsinitiative kritisiert haben. «Wir reden nicht für alle Reformierten, jedes Mitglied hat seine eigene Haltung. Wir wollen eine Auseinandersetzung anstossen und miteinander um Positionen ringen. Dies ist in den neuen Regelwerken angelegt.»
Zu den Bereichen, zu denen die Kirche sich äussern muss, zählt der Kirchenratspräsident Themen, die den Anfang und das Ende des Lebens betreffen, sowie Fragen der Menschenwürde, etwa bei der Organspende. Die Baselbieter Landeskirchen haben sich an der Vernehmlassung zum Sozialhilfe- und jüngst zum Behindertenrechtegesetz beteiligt. Immer wieder betone auch Regierungsrat Anton Lauber, Vorsteher der Finanz- und Kirchendirektion, dass die Kirche dem Staat ein kritisches Gegenüber sei, so Christoph Herrmann: «Die politisch Verantwortlichen nehmen uns ernst.»
Paradigmenwechsel bei den Finanzflüssen
Mit der Finanzordnung leitet die Kirche einen Paradigmenwechsel bei den Finanzflüssen ein. Bisher wurde der Kantonsbeitrag gemäss der Mitgliederzahl an die Kirchgemeinden verteilt, neu sollen alle einen Sockelbeitrag erhalten plus einen proportionalen Anteil pro Mitglied. Eine weitere wichtige Neuerung betrifft die Kirchenordnung. Den Kirchgemeinden steht ab 1500 Mitgliedern eine pfarramtliche Vollzeitstelle zu. 30 Prozent dieser ersten Pfarrstelle können sie gemäss ihren Bedürfnissen an Sozialdiakone oder Katechetinnen abtreten. Den Kirchgemeinden ist es freigestellt, ob sie darüber hinaus weitere Pfarrpersonen und Personal einstellen wollen.
Die neue Kirchenordnung ermöglicht mehr Freiheiten. So gilt der Gottesdienst weiterhin als die Mitte des Gemeindelebens, er muss aber nicht mehr jeden Sonntag stattfinden. Einige Neuerungen haben viele Pfarrpersonen bereits praktiziert, jetzt sind sie legitimiert. Beispielsweise dass Trauungen und Taufen nicht in einer Kirche stattfinden müssen und nicht mehr an einen Gottesdienst gebunden sind. Dies sei einer der Gründe gewesen, dass Eltern ihre Kinder nicht taufen liessen und lieber ein Begrüssungsritual wählten, meint Christoph Herrmann. «Theologisch betrachtet ist der Anschluss an eine Gemeinde wichtig, gleichzeitig haben die Menschen verschiedene Bedürfnisse und denen wollen wir entgegenkommen.» Auch dem Bedürfnis nach der freien Wahl der Kirchgemeinde, obwohl dies eher selten beansprucht werde. Es seien vor allem aktive Mitglieder, die in eine andere Gemeinde ziehen, aber ihre kirchliche Heimat behalten möchten, so Herrmann.
Virtuelle Gemeinde unerwartet aktuell
Andere Bestimmungen habe man vorausschauend aufgenommen, sagt Herrmann. Doch nun werden sie von der Wirklichkeit eingeholt. Gemäss der Kirchenordnung besteht die Möglichkeit, nicht territorial verfasste Kirchgemeinden zu gründen. Darunter habe man sich wenig Konkretes vorgestellt, vielleicht eine Gemeinde für Motorradfahrende oder andere Gruppen. Man habe sicher nicht damit gerechnet, dass mit der Corona-Pandemie die virtuelle Gemeinde eine unerwartete Aktualität erhält. «Die Kirchenordnung ist flexibel, sie sagt nicht einfach, was nicht geht, sondern dass wir bereit sind, neue Bedürfnisse zu prüfen. Dieses Vorausschauende war uns wichtig», erklärt Christoph Hermann. Für allfällige virtuelle Gemeinden etwa müsse man sich überlegen, wie man das Abendmahl oder eine Taufe feiern kann.
Freiwillige immer wichtiger
Von immer grösserer Bedeutung sind in den Kirchen die Freiwilligen. «Insbesondere kleine Gemeinden können sich nicht mehr alles leisten, also müssen andere die Aufgaben übernehmen», sagt Christoph Herrmann. Die Kirche möchte darum Gottesdienstformen fördern, die mehrere Beteiligte zusammen gestalten. Oder die Kirchen unterstützen oder beteiligen sich an privaten Initiativen, etwa einem Mittagstisch, wenn ihnen selber die Mittel oder das Personal dazu fehlt. Dies führe auch zu einem lebendigeren Gemeindeleben, glaubt Herrmann.
Viele Mitglieder bezahlen ihre Kirchensteuer, nehmen jedoch nicht aktiv am Gemeindeleben teil. Wie möchte die Kirche diese erreichen? Christoph Herrmann: «Wir müssen die Angebote, die diesen Mitgliedern wichtig sind, pflegen und bei Abdankungen, Trauungen und Taufen eine gute Begleitung gewährleisten. Zudem müssen die kirchlichen Mitarbeitenden, die für die Sozialarbeit zuständig sind, die Hotspots in den Gemeinden kennen und wissen, wo es sie braucht. Und der Religionsunterricht sollte so spannend sein, dass die Kinder ihren Eltern erzählen, wie gerne sie ihn besuchen.»
Seit zwei Jahren sei das Leben wegen der Corona-Pandemie sehr anstrengend, so Christoph Herrmann: «Viele sind mit angezogener Handbremse unterwegs. Dem können wir den Überschuss von Hoffnung und Gemeinschaftssinn entgegensetzen, aus dem wir unseren Glauben leben.» Er hofft, dass mit der neuen Freiheit und Flexibilität viele Lust verspüren, das kirchliche Leben mitzugestalten.
Karin Müller
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