Die Kummer-Nummer
Wir alle kennen die Telefonnummer 143. Wir sehen sie, wenn wir etwa über hohe Brücken spazieren. Sie ist ein Mahnmal für die Schmerzen, die im Verborgenen gefühlt werden. Und sie ist ein Rettungsring – im wahrsten Sinne des Wortes eine «dargebotene Hand». Jedes Jahr wählen rund 16 000 Menschen allein in Basel die Nummer, um mit jemandem über ihren Schmerz zu reden. Schweizweit sind es 200 000, alle zwei Minuten klingelt im Durchschnitt das Telefon.
Erste Hilfe, wenn die Seele schmerzt
«Menschen brauchen einen Zeugen dafür, dass das, was sie erleben, wahr ist, dass sie ihrem Erleben trauen dürfen», heisst es im Handbuch der deutschen Telefonseelsorge. Pfarrer Matthias Plattner aus Sissach stimmt dem zu: «Manche der Leute, die anrufen, sind IV-Rentner und andere einfach sehr einsam», sagt er. «Dieser Anruf ist womöglich das einzige Gespräch, das sie an dem Tag führen.»
Das Notfalltelefon wurde 1953 von einem Londoner Pfarrer als europaweit erstes seiner Art gegründet und 1957 unter anderem von der Stadtmission in Zürich unter dem Namen «Dargebotene Hand» eingeführt. Nach und nach entstanden in der ganzen Schweiz Regionalstellen, so 1973 auch die in Basel.
Matthias Plattner war acht Jahre lang im Vorstand der Dargebotenen Hand tätig, die heute als Verein organisiert ist. Sowohl die reformierte wie auch die katholische Kirche sind wichtige Trägerinnen. Die Kantone Basel-Stadt und Baselland unterstützen das Telefon mit Leistungsvereinbarungen.
Reden hilft – Zuhören auch
«Das Notfalltelefon ist eine wichtige Ergänzung für die Kirchen», betont Plattner. Es sei eine niederschwellige Art, den Menschen ein offenes Ohr zu leihen. Die Anonymität ist dabei gewährt – und zwar auf beiden Seiten. «Aber es ist ein persönlicher Kontakt», sagt Plattner. «Und das ist manchmal alles, was die Menschen brauchen.» Bei schwierigen Fällen geben die Mitarbeitenden auch die Nummer des psychiatrischen Diensts weiter. Studien zufolge nahmen 2022 die Arbeitsausfälle aufgrund Erkrankungen schweizweit zwischen 15 und 20 Prozent zu, viele Menschen können danach lange Zeit oder gar nicht mehr ins Arbeitsleben zurückkehren. Die Zahl der neuen IV-Rentner stieg 2021 um 16 Prozent, jeder zweite Fall soll dabei psychisch bedingt sein. Vielen Menschen fällt es nicht leicht, offen über ihre Probleme zu reden. Vor allem unter Männern ist es oft noch immer stigmatisiert, über Gefühle zu sprechen und Schwäche zu zeigen. Probleme müssten nicht immer auf Anhieb gelöst werden, erklären Psychologinnen – aber Gespräche können emotional entlasten. Jemandem zuzuhören ist darum oft schon die halbe Miete. Aktives Zuhören kann den Druck verringern, unter dem jemand leidet. Zu wissen, dass sie in einem Gespräch für ihre Gefühle oder ihr Verhalten nicht verurteilt werden, gibt Betroffenen ausserdem den Mut, sich ihren eigenen Ängsten zu stellen.
Am 3. Dezember feiert die Dargebotene Hand in der reformierten Kirche Sissach ihr halbes Jahrhundert im Kanton. «Wir zelebrieren an dem Tag die immense Arbeit der vielen Freiwilligen, die rund um die Uhr ans Telefon gehen», sagt Matthias Plattner.
Die Dargebotene Hand ist auf die Mitarbeit von Freiwilligen angewiesen, alle von ihnen Laien, die für das Beantworten der Anrufe speziell geschult werden. «Die Arbeit, die diese Menschen leisten, geschieht im Verborgenen.»
Die Kummer-Nummer