«Die meisten Christen wollen immer noch weg»
Als erster Papst reiste Franziskus Anfang März in die Heimat der drei grossen Weltreligionen. Im Irak wurde laut Genesis Abraham geboren, den Juden, Christen und Muslime als Stammvater verehren. In dem von mehreren Kriegen verwundeten und vom «Islamischen Staat» traumatisierten Land wurde der Papst von den Christen sehnlich erwartet.
Andreas Goerlich, Pfarrer in Neftenbach, schaute sich die Messe im Stadion von Erbil zu Hause auf einem kurdischen Fernsehsender an. Kollegen und Kolleginnen, die er von seiner Arbeit für die christliche Hilfsorganisation CAPNI kennt, erzählten ihm danach, wie sie das Grossereignis erlebt hatten. «Für die Christen war der Besuch von Franziskus sehr wichtig», sagt Goerlich.
Anhaltender Exodus
Der Pfarrer erinnert an den christlichen Exodus aus dem Irak. 1984 lebten noch 1,4 Millionen Christen im Land, vor zehn Jahren 700’000, jetzt sind es gerade noch 175'000. «Und viele wollen immer noch weg», sagt Goerlich. Denn, obwohl der Terror des IS ein Ende fand, ist die christliche Minderheit nach wie vor benachteiligt im Land. Christen wie Jesiden finden kaum Arbeitsstellen im mehrheitlich sunnitischen Irak, ihre Geschäfte werden oft von dschihadistisch gestimmten Tätern überfallen.
Anfang Februar war Andreas Goerlich selbst im Irak, vor allem in den kurdisch verwalteten Gebieten rund um die nordirakische Stadt Dohuk. Dort arbeitet seine kleine Hilfsorganisation Khaima und dort hat auch CAPNI seinen Sitz. Nachdem der Zürcher Pfarrer von 2016 bis 2018 für das grosse irakische Hilfswerk gearbeitet hatte, in dem über 12 christliche Denominationen im Land zusammengeschlossen sind, gründete er sein eigenes Hilfsprojekt Khaima, das eng mit CAPNI zusammenarbeitet. Die reformierten Landeskirchen unterstützen CAPNI mit einer jährlichen Kollekte. Auch Khaima werde mehrheitlich von Spenden von Kirchgemeinden und Privaten mit kirchlichem Hintergrund finanziert, erklärt Goerlich.
Fehlende Hilfswerke
«Viele grössere Hilfswerk aus aller Welt nahmen die Corona-Pandemie zum Anlass, den Irak zu verlassen, das ist ein grosses Problem», erzählt Goerlich. Und doch finden Flüchtlinge in Dohuk auch eine neue Heimat. Der Pfarrer kennt Christen in der Gegend, die sich eine Existenz aufgebaut haben und bleiben wollen. Khaima hat für sie zum Beispiel eine Dorfbäckerei mitfinanziert. «Dass nicht alle Christen aus Dohuk wegwollen, ist auch einigen sehr engagierten Pfarrern zu verdanken, die viel für die Gemeinde tun», berichtet Goerlich.
Wie CAPNI hilft auch Khaima nicht nur Christen, sondern allen, ungeachtet ihrer Religion. Zum Beispiel mit Traumatherapie in den Lagern. Oder mit kleinen Starthilfen, die ein Einkommen ermöglichen: eine Nähmaschine, ein Kiosk, ein Getränkestand. Das ist vor allem für jene wichtig, die neu kommen, im Camp keinen Platz mehr erhalten und somit auch keine Grundversorgung durch das UNHCR.
Zögerliche Rückkehr
Inzwischen versucht die irakische Regierung, jesidische Binnenflüchtlinge mit dem Versprechen auf drei Monatslöhne wieder in ihre Herkunftsorte im Sindschar-Gebirge zu locken. Doch das nützt wenig an Orten, wo die Infrastruktur am Boden liegt, es kaum medizinische Versorgung, keinen Strom, keine Kanalisation und vor allen keine funktionierenden Schulen gibt. «Hinzu kommt die Retraumatisierung», sagt Goerlich. Die Leute stünden vor den Ruinen ihres Hauses oder Geschäftes und erinnerten sich an all ihre schrecklichen Erlebnisse.
Auch die früheren Hochburgen des interreligiösen Zusammenlebens wie etwa Bashiqa sind heute kaum mehr religiös durchmischt. «Geflüchtete Christen und Jesiden haben oft kein Geld, ihre zerstörten Häuser wieder aufzubauen», erzählt Goerlich. Darum nehmen sie die Kaufangebote von vermögenden muslimischen Stadtflüchtlingen in der Hochburg des Olivenanbaus gerne an.
Wichtiges Zeichen
Das Zusammenleben der Religionen bleibt schwierig im Irak - vor allem, weil das Land immer noch Spielball auch internationaler politischer Interessen ist. «Das Treffen des Papstes mit dem schiitischen Grossayatollah Sistani war ein wichtiges Zeichen», sagt Goerlich. Zugleich haben ihm seine Bekannten im Irak aber auch von der Kritik berichtet, der sie jetzt ausgesetzt sind. Die sunnitische Mehrheit im kurdischen Gebiet ist gekränkt, weil Franziskus kein offizielles Treffen mit einem ihrer Führer hatte. «Das war nicht sehr geschickt», findet der Pfarrer.
Christa Amstutz, reformiert.info
«Die meisten Christen wollen immer noch weg»