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Die Reformation grenzt die Schweiz von Deutschland ab

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28.12.2018
Die EU steht zurzeit auf dem Prüfstand. Tim Guldimann, ehemals Botschafter in Berlin, sagt, warum die Willkommenskultur keine Chance hatte.

Brexit, Flüchtlings- und Finanzkrise in Griechenland. Was läuft falsch beim Friedensprojekt EU?
Heute fehlt der politische Wille der Mitgliedstaaten, das gemeinsame Interesse über die nationalen Interessen zu stellen. Es fehlt die Einsicht, dass die gemeinsamen Probleme nur gemeinsam erfolgreich angegangen werden können. Diese Einsicht war in den Jahren nach dem Weltkrieg in zwei unterschiedlichen Positionen begründet, die rückblickend zumeist mit dem Begriff «Friedensprojekt» idealistisch verwischt werden.

Welchen Positionen?
Aufseiten der Siegermächte gab es zuerst die absurde Idee, mit dem Morgenthau-Plan Deutschland zu zerstückeln und in eine Agrargesellschaft zurückzuführen. Zum Glück wich dieser Plan dann der Politik, Deutschland in Europa einzubinden, um sicherzustellen, dass von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen würde. Und in Deutschland setzte sich die Einsicht durch, dass die eigene Entwicklung nur toleriert würde, wenn man sich voll auf eine europäische Zusammenarbeit ausrichtet und diese auch stark mitfinanziert. Diese beiden zentralen Motive der europäischen Integration wurden dann im Kalten Krieg vom Interesse der USA überlagert, Westeuropa und Deutschland als Bollwerk gegen den Kommunismus zu stärken.

Die letzte grosse Belastungsprobe der EU war 2015 die Flüchtlingskrise. Warum konnte sich die Willkommenskultur nicht durchsetzen?
Das deutsche Vorgehen war inhaltlich richtig, aber politisch falsch kommuniziert. Bei aller Anerkennung für ihre Verdienste – Kanzlerin Angela Merkel hat diese Krise schlecht gemanagt. Man hätte das Problem der Flüchtlinge lange im Voraus sehen können, unternahm aber nichts, insbesondere viel zu wenig in den riesigen Flüchtlingslagern in der Region. Zudem hatte Deutschland es danach versäumt, seine Flüchtlingspolitik mit den anderen Ländern abzusprechen. In Deutschland selbst entstand der Eindruck, der Staat habe die Kontrolle über die Situation verloren. Das verlieh der AfD gewaltigen Aufschwung.

Hinter Merkels Flüchtlingspolitik stand ein humanitäres Anliegen. Warum liessen die anderen Länder Deutschland im Regen stehen.
Im deutschen Alleingang in der Flüchtlingspolitik wiederholte sich, was schon in der Energiewende passierte. Die anderen Regierungen machten die Flüchtlinge allein zum deutschen Problem. Hinzu kam, dass in den osteuropäischen Ländern, in Österreich und in Italien der politische Rechtsrutsch die Haltung gegenüber den Flüchtlingen verschärfte.

Bei Europa spricht man vom christlichen Abendland, das christliche Werte vertritt. Gilt das noch heute?
Die europäische Wertegemeinschaft gründet auf der Tradition der christlichen Werte, aus denen das christliche Menschenverständnis und die Menschenrechte hervorgegangen sind. Es wäre falsch zu behaupten, sie gelten nicht mehr. Heute stellen Populismus und Nationalismus die europäische Integration infrage. Sie richten sich an sich nicht gegen die christlichen Werte, vielmehr können diese – wie in Polen durch die katholische Kirche – auch nationalistisch gedeutet werden. 

In der Kirchengeschichte gab es das gemeinsame Feindbild Islam, das zeitweise Europa einte.
Ideologisch bietet sich der Islam natürlich als feindliche Projektionsfläche. Bei der Frage nach der europäischen Einigung wäre es interessanter, den alten Grenzen zwischen Ost- und Westrom nachzugehen. Das kulturelle Erbe der ehemaligen oströmischen und weströmischen Länder wirkt bis heute nach. Dem Baltikum etwa gelingt die europäische Integration weit besser als etwa Bulgarien, Rumänien und Griechenland.

Spielen die Konfessionen in der Politik keine Rolle mehr?
Doch, in der politischen Kultur, die durch die religiöse Tradition geprägt bleibt. Die Römer Verträge, welche die Grundlagen zur Europäischen Einigung bilden, wurden von sechs Katholiken unterschrieben. Inzwischen hat sich die deutsche Politik vom Rhein nach Berlin verlagert und von einem katholischen in ein protestantisches Umfeld. Angela Merkel ist Protestantin und Pfarrerstochter, ihre Vorgänger aus der CDU waren katholisch. Die Religionsgeschichte ist auch für unser Land von grösserer Bedeutung als gemeinhin wahrgenommen. So war die Reformation ein wichtiger Faktor für die Abgrenzung der Schweiz von Deutschland.

Inwiefern?
Zwischen der zwinglianischen und lutherischen Auffassung der Reformation gibt es grosse Unterschiede. Zwinglis Vorstellungen der politischen Kultur wurden stark von Erasmus beeinflusst. Zwingli und Calvin waren stark vom Humanismus geprägt. Die Reformation war für sie viel stärker eine Bewegung gegen die Obrigkeit, was dann die politische Kultur beeinflusste. Luther hingegen setzte oben bei den Fürsten an. Zwingli sympathisierte mit den Bauernaufständen im Tirol. Luther nahm gegen die Bauernbewegung Stellung. Auch den Brückenschlag zwischen der Deutsch- und der Westschweiz hätte es ohne die Reformation und die Beziehung zwischen Heinrich Bullinger und Jean Calvin nicht gegeben. Dieser Aspekt der Religionsgeschichte hat die Schweiz viel stärker geprägt als die Schlacht von Marignano.

Ist Zwinglis Staatsverständnis der Grund, dass die Schweiz gegenüber der EU zurückhaltend ist?
Es ist mehr eine Frage der politischen Kultur der Abgrenzung. Schon seit dem Mittelalter grenzten sich die Eidgenossen langsam gegenüber dem Deutschen Reich ab, was dann in der Reformation noch bekräftigt wurde. Im 20. Jahrhundert hatte diese Politik enorm Erfolg: Erstmals während den Weltkriegen. Und später als sich die Schweiz dem Beitritt in die EU widersetzte und sich gleichzeitig wirtschaftlich gegenüber Europa öffnete. Man hatte das Glück, sich bilateral arrangieren zu können, ohne die Souveränität aufgeben zu müssen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel wird zurücktreten. Was erwarten Sie von der Zukunft?
Ich glaube nicht, dass dies irgendwelche Auswirkungen hat auf die Haltung von Berlin zur Schweiz. Auch bei Frau Merkel zeigte sich, dass grosse Politiker es meistens verpassen, im rechten Moment zurückzutreten.

Herr Guldimann, Sie waren von 2010 bis 2015 Botschafter in Berlin und leben auch heute in der Hauptstadt. Fühlten Sie sich anfangs fremd in Deutschland, kulturell und von der Mentalität her?
Ich fühle mich gar nicht fremd, vielmehr ist Deutschland vor allem wegen meiner Familie zur zweiten Heimat geworden, auch wenn ich mental stärker in der Schweiz verwurzelt bleibe.

Tilmann Zuber, kirchenbote-online, 28. Dezember 2018

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