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Die reformierte Kirche hielt sich zurück

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29.08.2018
1918 kam es zum Landesstreik. Arbeiter gingen für ihre sozialen Forderungen auf die Strasse. Bund und Kantone mobilisierten die Armee. Die Schweiz stand an der Schwelle eines Bürgerkrieges. Die Kirchen hielten sich zurück und versuchten im besten Fall zu vermitteln.

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges kam es in Europa zu Revolutionen: In Kiel begann am 4. November 1918 der Matrosenaufstand, fünf Tage später dankte der deutsche Kaiser ab. Am 11. November wurde in Österreich die Republik verkündet.

Auch in der Schweiz ging im Herbst 1918 das Revolutionsfieber um. Die Arbeiterschaft demonstrierte auf den Strassen und streikte, um ihrer Forderung nach der 48-Stundenwoche, der Sicherung der Lebensmittelversorgung, sowie der Alters- und Invalidenversicherung auf der Strasse Nachdruck zu verleihen. Die soziale Situation der Bevölkerung war vielerorts gravierend. Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Industrialisierung die Arbeiterschaft in die Armut getrieben. 1918 verschärfte sich die Situation auf Grund der Inflation, der hohen Staatsverschuldung und des 1. Weltkrieges zusätzlich. Vor allem in den Städten war die Bevölkerung verarmt und hungerte.

Appell für Wohltätigkeit
Christine Nöthiger-Strahm hat in ihrer Dissertation die Reaktion der reformierten Kirchen auf den Generalstreik untersucht. «Die Protestanten hielten sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit Sozialkritik zurück und wollten nichts an den grundsätzlichen sozialen Strukturen der Gesellschaft ändern», stellt die Theologin fest. Der Zürcher Theologieprofessor Johann Peter Lange (1802 bis 1884) deutete die Verarmung vieler Menschen als Folge der Sünden und als prophetische Erscheinung, die die Menschen zur Umkehr rufe.

Die Richtungsstreitigkeiten zwischen Liberalen und Positiven lähmten die reformierten Kirchen zusätzlich. «Die Pfarrschaft unterstützte die Arbeiterbewegung in ihren sozialen Forderungen kaum», sagt Nöthiger. «Bei der Nächstenliebe setzten sie auf karitative Werke, um die Nöte im In- und Ausland zu lindern. Der Appelle von der Kanzel beschränkten sich vor allem für mehr Wohltätigkeit.»

«Ich bin Sozialist, weil ich an Gott glaube»
In Zürich hingegen entstand Anfang des 20. Jahrhunderts die sozial-religiöse Bewegung um Leonhard Ragaz. «Ich bin Sozialist, weil ich an Gott glaube», erklärte der Theologieprofessor und brachte Sozialismus und Christentum auf den gleichen Nenner. «Mit prüfendem Blick in die Bibel entlarvten Ragaz und Karl Barth die vom Staat behauptete Bolschewismusgefahr als Strategie, um Repressionsmassnahmen gegen die eigene Bevölkerung zu begründen», schreibt der Sozialethiker Frank Mathwig. Doch Barth warnte auch davor, den Sozialismus als Heil zu vergöttern.

Die religiös-soziale Bewegung und Barths Ansatz, der vor der Vergöttlichung der Politik und Menschen warnte, schufen die theologische Basis für eine Kirche, die sich sozialkritisch und politisch engagiert. Etwa für die Bekennende Kirche in Deutschland, die gegen die Nazi-Diktatur kämpfte, oder für die Befreiungstheologie in Lateinamerika.

 

«Die Kirche hatte sich von der Arbeiterschaft entfremdet»

Die Theologin Christine Nöthiger-Strahm untersuchte in ihrer Dissertation «Der deutschschweizerische Protestantismus und der Landesstreik von 1918», wie die Kirche auf den Generalstreik reagierte.

Frau Nöthiger, 1918 gingen die Arbeiter auf die Strasse, um gegen die schlechten Löhne und sozialen Verhältnisse zu demonstrieren. Wie ging die reformierte Kirche damit um?
Man darf den Landesstreik von 1918 nicht isoliert betrachten. Er bildete den Höhepunkt und Abschluss eines langen Kampfes um soziale Gerechtigkeit und den Anfang der modernen Sozialgesetzgebung. Die Kirche war schon damals sehr heterogen und brauchte ihre Kräfte für die Richtungsstreitigkeiten zwischen Liberalen und Positiven. Die Pfarrschaft wollte an den grundsätzlichen sozialen Strukturen der Gesellschaft nichts ändern. Sie hielt sich mit Kritik zurück und beschränkte sich auf Appelle für mehr Wohltätigkeit. Die religiös-soziale Bewegung um Leonhard Ragaz änderte dies.

Inwiefern?
Die religiös-soziale Bewegung nahm die Anliegen der Arbeiter und Arbeiterinnen ernst. Leonhard Ragaz erklärte, wenn die Arbeiter nicht in die Kirche kommen, dann muss die Kirche zu den Arbeitern gehen. Ragaz gab seine Professur auf und zog in ein Zürcher Arbeiterquartier. Die Theologen Hermann Kutter und Leonhard Ragaz pflegten Kontakt zu den zahlreichen russischen Migranten, die damals in Zürich lebten. Gerade Kutter sah in Lenin und dessen Sozialismus einen Heilsbringer. Karl Barth hingegen warnte davor, die sozialistische Bewegung religiös zu verklären.

Fehlte der reformierten Kirche ansonsten der Bezug zur Arbeiterbewegung?
Ja, die Kirche hatte sich von der Arbeiterschaft entfremdet. Damals verlor die reformierte Kirche die Arbeiter, später die Intellektuellen. Die Arbeiter fühlten sich in der Kirche nicht vertreten.

Warum?
Die reformierte Kirche war und ist bürgerlich geprägt. Bei der Nächstenliebe setzte sie auf den karitativen Weg, sie richtete Suppenküchen und Heime für «gefallene Mädchen», Alkoholiker und Obdachlose ein. An den sozialen Strukturen wollte sie nichts ändern.

Auch heute bewegt sich die reformierte Kirche vor allem in bürgerlichen Kreisen?
Ja. Heute besteht die traditionelle Arbeiterschaft in der Schweiz vor allem aus Ausländern. Und diese sind meist nicht reformiert.

1918 ging es um die Folgen der industriellen Revolution, heute um die der digitalen. Gibt es Ähnlichkeiten?
Damals waren die sozialen Verhältnisse gravierend. Die Familien schufteten in den Fabriken, lebten im Elend und viele hungerten. Nach dem 1. Weltkrieg verloren viele ihre Stelle. Die heutige Situation in der Schweiz lässt sich kaum mit der damaligen vergleichen. Anders sieht dies in Teilen der Dritten Welt aus.

Heute äussern sich die meisten kirchlichen Hilfswerke sozialkritisch.
Ja, auch in Bezug auf die Umwelt. Im Papstfilm von Wim Wenders erklärt Papst Franziskus, es gebe viel Armut, aber die ärmste und meist geknebelte Kreatur sei die Erde selbst. Solche Worte von einem Papst! Das ist wunderbar!

Vielerorts fürchten die Kirchenbehörden, die Sozialkritik könnte die guten Steuerzahler vergraulen.
Manchmal zu Recht. Karl Barth war Pfarrer in der Arbeitergemeinde Safenwil. Als er in die SP eintrat, trat ein reicher Fabrikant aus Protest aus der Kirche aus und der Gemeinde fehlten die Kirchensteuern. Das kann bis heute geschehen.

Nochmals zurück zum Landesstreik. Wie reagierte die Pfarrschaft, als die Arbeiter streikten und das Militär auf sie schoss?
Am Sonntag nach dem Streiktag riefen die Pfarrer auf den Kanzeln dazu auf, sich friedlich zu verhalten. Die Menschen fürchteten sich vor dem Ausbruch eines Bürgerkrieges.

Richtete sich der Appell an beide Seiten?
Ja, an die Arbeiterschaft, Unternehmer und Politiker. Die Kirche versteht sich ja oft als dritte Kraft, weder links noch rechts. Sie will vermitteln und die Menschen zusammenführen. Und sie muss eine Kirche für alle sein. Das macht ihre Aufgabe bis heute so schwierig.

Tilmann Zuber, kirchenbote-online, 30. August 2018

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