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Abschieds-Interview mit Adriana Di Cesare

«Die Reformierten brauchen sich nicht zu verstecken»

von Tilmann Zuber
min
30.06.2023
Redaktorin Adriana Di Cesare verlässt nach neun Jahren den Kirchenboten, bleibt der Schaffhauser Kirche aber als Sozialdiakonin erhalten. Sie findet es für die Gesellschaft wichtig, dass die Kirche selbstbewusst zu ihren Werten steht.

Adriana Di Cesare, Sie berichten seit neun Jahren über die reformierte Kirche im Kanton Schaffhausen. Wie hat sich die Kirche in den letzten Jahren verändert?

Die Kirche steht heute vor der Frage, wie sie Kirche sein kann in einer sich rasch verändernden Gesellschaft und Umwelt. Die Kirche ist sich inzwischen bewusst geworden, dass sie kleiner und ärmer wird. Sie reagiert darauf innovativ mit neuen Ideen und versucht, die Basis stärker einzubeziehen.

Wie sieht das konkret aus?

Während der Corona-Pandemie entstanden viele neue Projekte wie etwa die Nachbarschaftshilfe, die sich stark an den Bedürfnissen der Basis orientieren. Solche Projekte gibt es auch im Migrationsbereich oder in der Jugendarbeit. Die Kantonalkirche versucht jetzt, die Kirchgemeinden und Behörden stärker miteinander zu vernetzen. Kirche sollte nicht nur im eigenen Dorf stattfinden.

Sie haben über viele Menschen geschrieben. Welches war für Sie die eindrücklichste Begegnung?

Da gab es viele. Grundsätzlich ist es beeindruckend, wenn Menschen, ob prominent oder nicht, persönlich werden und ihre menschliche Seite zeigen.

Wenn ich erzähle, dass ich für die Kirche arbeite, habe ich rasch das Gefühl, mich erklären zu müssen.

Welche Begegnungen haben Sie berührt?

Zum Beispiel als ich eine Witwe interviewte und sie mir offen über den Tod ihres lange Zeit pflegebedürftigen Mannes erzählte. Sie stand dazu, dass dieser Verlust auch frei mache für neue Perspektiven, das war eindrücklich. Oder als ich eine Reportage über die Wunschambulanz schrieb, die schwerkranken Menschen einen letzten Wunsch erfüllt. Gemeinsam besuchten wir das Konzert der Kelly Family im Hallenstadion. Oder als ich ein Porträt über den verstorbenen Pfarrer Gerhard Blocher, den Bruder von Christoph Blocher, verfasste. Ich kannte ihn nur vom Hörensagen. Als ich all die Erinnerungen der Leute zusammentrug, entstand ein persönliches und eindrückliches Bild des Verstorbenen. Am Ende hatte ich das Gefühl, ihn zu kennen.

Sie haben viel über die Kirche geschrieben. Hand aufs Herz: Hat die Kirche ein Imageproblem?

Auf jeden Fall. Wenn ich erzähle, dass ich für die Kirche arbeite, habe ich rasch das Gefühl, mich erklären zu müssen. Und zu Veranstaltungen kommt manchmal weniger Publikum, wenn diese im Rahmen der Kirche stattfinden.

Was kann die Kirche tun?

Dazu stehen, dass sie Kirche ist. Die Reformierten brauchen sich nicht zu verstellen oder zu verstecken. Sie sollten selbstbewusst zu dem stehen, was sie tun und was ihr Auftrag ist und nicht versuchen, sich anzubiedern, das macht sie unglaubwürdig.

Die Kirche kann dem Staat ein selbstbewusstes Gegenüber bieten.

Sind die Kirchen zu zurückhaltend?

Es ist ein Schweizer Charakterzug, sich nicht in den Vordergrund zu drängen. Ja nicht auffallen. Dieses Gen schlummert auch in der reformierten Kirche. Für die Gesellschaft ist es jedoch wichtig, dass die Kirche für ihre Werte einsteht und den Diskurs und die Kritik nicht scheut. Die Kirche kann dem Staat ein selbstbewusstes Gegenüber bieten.

Apropos Staat: Sie sind nicht nur Journalistin, sondern auch Sozialdiakonin beim Kirchgemeindeverband Schaffhausen. Was unterscheidet Ihre Arbeit von der staatlichen Sozialarbeit?

Wir sind mit dem christlichen Menschenbild unterwegs, vertreten in unserer Arbeit christliche Werte. Wir wollen die Gemeinschaft stärken und Räume schaffen, in die sich Menschen einbringen können. Für uns sind alle Menschen gleich, ob Obdachlose oder gute Steuerzahler. Wir sind keine Sachbearbeiterinnen, die Menschen verwalten.

Wie zeigt sich das?

Ein Beispiel: Kürzlich habe ich eine Frau im Krankenhaus besucht, die nicht mehr lange zu leben hatte. Sie erzählte mir, dass sie noch einen grossen Wunsch habe. Sie wünschte sich, dass man ihr Plüschtier, das sie bei sich trug, wäscht. Es war im Laufe der Jahre schmuddelig und fettig geworden. Ich nahm den Teddy mit nach Hause, wusch und flickte ihn. Als ich ihn zurückbrachte, strahlte die Frau übers ganze Gesicht. Sie starb mit dem Bären im Arm. Das zeigt, wie man mit kleinen Gesten, Zuwendung und Aufmerksamkeit so viel Gutes tun kann.

Suchen Menschen in Not im Zeitalter der Sozialwerke die Hilfe bei der Kirche?

Ja, sicher. Beeindruckend war, als ich vor zwei Jahren einen Anruf aus La Palma erhielt. Eine Familie hatte beim Vulkanausbruch ihr Haus mit all ihrem Hab und Gut verloren hatte. Sie standen vor dem Nichts und wollten zurück in die Schweiz. Ich organisierte den Rückflug, die Unterkunft und die erste Überbrückungshilfe. Inzwischen hat sich die Familie eingelebt, die Mutter hat Arbeit gefunden, das Kind geht zur Schule.

Die Kirche wird sich von einer Angebotskirche zu einer Beteiligungskirche entwickeln, in denen Menschen ihre Ideen einbringen können.

Wie wird die reformierte Kirche in zwanzig oder dreissig Jahren aussehen?

Solche Prognosen sind schwierig. Die Kirche wird weniger eine Pfarrkirche sein, sondern mehr eine Kirche, die von einem breiten Team getragen wird. Und sie wird weniger Angebote machen.

Weshalb?

In der Stadt Schaffhausen bietet die reformierte Kirche rund 100 Angebote pro Monat an. Das ist viel, vielleicht zu viel. Etliche dieser Veranstaltungen sind schlecht besucht. Die Kirche wird sich von einer Angebotskirche zu einer Beteiligungskirche entwickeln, die offene Räume bietet, in denen Menschen ihre Ideen einbringen können.

Wie sieht diese aus?

In Schaffhausen gab es beispielsweise letztes Jahr eine eindrückliche Krippenausstellung, die sehr gut besucht war. Die Idee dazu hatte eine junge Frau, die uns angefragt hat, ob wir ihr bei der Umsetzung helfen könnten. Schliesslich haben uns viele Leute unterstützt und die Ausstellung wurde ein Erfolg. So sieht Beteiligungskirche aus.

Noch ein Wort zu den schwindenden Finanzen.

In der reformierten Kirche des Kantons Schaffhausen gab es in den letzten Jahren grosse Sparanstrengungen, die sich auf die Stellen auswirkten. In den nächsten Jahren steht die Kirche vor dem Problem, Pfarrpersonen für die Gemeindearbeit zu finden und es fehlt an Nachwuchs. Im Kanton Schaffhausen kommt erschwerend hinzu, dass viele Pfarrstellen mit kleinen Pensen wenig attraktiv sind. Dasselbe gilt für die Sozialdiakonie.

Haben Sie zum Schluss noch einen Wunsch an die Kirche?

Ja, mutig in die Zukunft zu blicken und keine Angst vor dem Scheitern zu haben. Die christliche Botschaft spricht die Menschen seit 2000 Jahren an. Und die Geschichte Gottes mit den Menschen reicht noch viel weiter zurück. Warum sollte sie jetzt enden?

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